AGILITÄT oder doch GAILITY?
AGILITÄT oder doch GAILITY?
Geschwindigkeit, Effektivität, Effizienz, agile Organisationsformen, Holocracy und Selbstorganisation sind Mantren in unserer VUCA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität). Veränderungen im Markt möglichst früh erkennen, Strukturen beweglich anpassen und in neue Geschäftsfelder zu investieren – macht ja alles Sinn, aber es ist auch Banane. Oder kennen Sie irgendeinen Unternehmer, der das Gegenteil praktiziert?
Dazu kommt noch: Agilität ist ein alter Hut. Sie stammt aus den 1950er Jahren und beschreibt gar keine Managementheilslehre, sondern Funktionen, die ein System nach Parsons erfüllen muss, um seine Existenz zu erhalten. „AGIL“ steht bei Parsons nicht für „beweglich“, sondern lediglich als Akronym für „adaptation“, „goal attainment“, „integration“ und „latent pattern maintenance“. Da hält die Welt nun wirklich nicht den Atem an. Und Parsons hätte sein Schema auch genau so gut LIGA, GAIL, ALGI oder IGAL nennen können…“ Rettung der Unternehmen – und natürlich auch der ganzen Menschheit – durch GAILITY hätte zwar auch nicht mehr Substanz als andere Fads, aber es wäre wenigstens abgefahren.
Agilität scheitert
Nun sollen also die Arbeitsprinzipien in Unternehmen agil werden. Dagegen hängt der Markterfolg weiterhin an Faktoren wie Skalierbarkeit, Standardisierung, Kosteneffizienz und Deadlines für die Delivery. Daher ist es eigentlich kein Wunder, dass 70-85% der Versuche, agiles Projektmanagement einzuführen, scheitern und die übrigen 15-30% mehr schlecht als recht vegetieren ohne wirklich Potenziale der Technologie zu heben.
Das hat, neben der berechtigten Weigerung von Managern, sich selbst selbst abzuschaffen, auch faktische und soziale Gründe:
- Veränderung, egal ob neu oder nicht, erzeugt immer Angst vor Kontrollverlust, die nicht einmal unberechtigt ist und Herdenverhalten begünstigt.
- Echte unternehmerische Entscheidungen sind keine Berechnungen, sondern erzwingen die Wahl zwischen mindestens zwei potenziellen Handlungsalternativen unter Beachtung der übergeordneten Ziele. Das ist ein komplexer Prozess und nie vollständig rational oder ausschließlich von Fakten abhängig.
- Notwendigkeit der Gewinnmaximierung führt Agilität zwangsläufig in ein Dilemma: mehr Kollaboration, mehr Offenheit und Hierarchiefreiheit steigern durch mehr Kommunikation und Verhandlung von Einflussnahme und Macht die Transaktionskosten. (Auch die Geschwindigkeit von Entscheidungen ist in weniger hierarchischen Systemen nachweislich langsamer als in Hierarchien.)
Agilität in Start-ups
Eine agile Organisation kann dabei in Start-ups durchaus funktionieren, bis zu einer bestimmten Größe ist sie dort sogar Erfolgsfaktor, der niedrige Vergütung und hohe Belastung kompensiert. Auf klassisch organisierte Unternehmen trift das aus Gründen des Interessenkonflikts und der Marktzwänge nicht zu.
Agilität und Hierarchie
Hierarchie und informelle Kooperation stehen aber zum Glück gar nicht, wie gebetsmühlenhaft von den Gurus der agilen Transformation behauptet, im Widerspruch. Es geht gar nicht darum, keine Regeln und Hierarchien mehr zu haben, sondern konkret darum, Hierarchie und informelle Zusammenarbeit erfolgreicher zu kombinieren als der Wettbewerb.
Wenn Sie bis hierher gelesen haben – trotz Empörung über meine vermeintliche Innovationsfeindlichkeit und ketzerischen Zweifel an der gesellschaftlich erwünschten Heilslehre – haben Sie zwei Eigenschaften bewiesen, die für Unternehmer gegenwärtig besonders wichtig sind. Realismus, d. h. den Fokus auf dem Wesentlichen zu halten und zweitens Mut, sich dem unguten Gefühl zu stellen, das einen unweigerlich beschleicht, wenn man nicht der Masse folgt
Agilität und unternehmerische Entscheidung
Und zur Belohnung hätten Sie nun den Geheimtipp verdient, was statt GAILITY nun wirklich hilft. Den würde ich an dieser Stelle auch gern liefern, und Vermögen verdienen damit. Ich habe ihn nicht. Ich finde das aber auch, abgesehen von dem entgangenen Vermögen, wenig beunruhigend.
Eine vernetzte Welt mit raschem Austausch von Informationen braucht neue Formen des Umgangs und der Arbeitsteilung. Und trotzdem werden wir weiterhin analog atmen, essen und schlafen. Innovation heißt nicht, plötzlich jeden herkömmlichen Managementansatz über Bord zu werfen. (Ihn von Glaubenssätzen und Heilslehren zu befreien, ist dagegen sicher kein schlechter Ansatz.)
Die Welt ist keinesfalls zu komplex, um sie zielgerichtet gestalten zu können. Ganz fatal wäre es, unter dem Druck der jeweils neuesten Managementmode, nicht mehr auf alte Methoden zu vertrauen, nur um ein angeborenes Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung durch Herdentrieb zu bedienen.
Statt Feigenblattaktionen, Abkapselung und Informationsabwehr, geht es – aus meiner Sicht – darum, mit wachen Augen den Umbruch im Wirtschaftssystem wahrzunehmen und dann die eigene Aufgabe mit Augenmaß neu zu definieren, auch gegen Widerstände, eigene und fremde. Für Unternehmer, ebenso wie Top-Manager, ist es enorm wichtig, die eigenen Impulse und Strategien zu reflektieren, mit denen sie ihr Unternehmen zukunftsfest machen wollen. Das eigene Erfahrungswissen und die eigenen Anteile von Irrationalität sind dabei –im Gegensatz zu einem Berechnungsergebnis – der große Reichtum in jeder menschlichen Entscheidung.
Quellen:
Kühl S. Agilität, Holocracy und andere Managementmethoden, aufgerufen am 20.02.2020
Kühl S, Muster J. Organisationen gestalten. Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung. Wiesbaden: Springer VS; 2016.