Die 7 Grundsätze der Achtsamkeit #1 Nicht-Urteilen
Die 7 Grundsätze der Achtsamkeit – #1 Nicht-Urteilen
Urteilen
Unbewusst beurteilen wir Menschen, Dinge und Ereignisse ständig als gut, schlecht oder neutral. Dieses Urteilen und Etikettieren läuft unbewusst und ununterbrochen ab, wie Untertitel in einem Film. In diesem ständigen inneren Monolog liegen die auch Ablenkungen während der formalen Achtsamkeitsübungen versteckt: wir bemerken ein Kitzeln, wir finden es lästig, es soll verschwinden, wir wollen uns kratzen, wir unterdrücken den Drang, uns zu kratzen, das Kitzeln bleibt bestehen, wir ärgern uns, das Kitzeln wird intensiver, wir finden es störend,… und plötzlich merken wir, dass wir Gedanken nachhängen, statt dem Atem zu folgen. Das gleiche passiert auch im Alltag, kaum bleiben wir an einem gedanklichen Etikett hängen, schon gleiten wir aus der Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks in eine Gedankenkette, die uns assoziativ unendlich weit weg führt von dem, was wir gerade taten. Es fühlt sich auch so an, als wären wir selbst eigentlich diese Gedanken, weil unsere Aufmerksamkeit ganz darin gefangen ist, und wir ausschließlich unsere Gedanken wahrnehmen. Dazu mehr im Abschnitt „Zwang“ weiter unten in diesem Beitrag.
Gründe, warum wir andere beurteilen
Unsicherheit
Wenn wir unsicher und / oder unzufrieden mit uns sind, können wir unseren Selbstwert stabilisieren, indem wir andere herabsetzen. Diese Form der Abwehr bedienen Trash-TV-Formate mit der „Abwärtsversicherung“: Anderen geht es offenbar immer noch ein wenig schlechter, sie sind noch etwas dicker als man selbst, oder sie sind zumindest weniger intelligent.
Angst
Wenn wir Angst haben oder uns von anderen Menschen einschüchtern lassen, kann Herabsetzung als Gegenwehr dienen. Kollegen verhöhnen hinter seinem Rücken den unbeliebten Chef. Zwei Frauen sehen eine hübschere Frau als Bedrohung und machen sich über ihr Outfit lustig, oder zwei Männer äußern sich herablassend über eine Frau, die sie insgeheim begehrenswert aber unerreichbar finden. Hierher gehört auch das Ressentiment. Es erscheint grundsätzlich als Form der seelischen Selbstvergiftung, die auf die verhinderte Entladung von Gemütsbewegungen und Affekten zurückzuführen ist. Affekte, die das Vorurteil nähren, sind Hass, Bosheit, Neid und Rache, der wichtigste Treiber zur Ausbildung des Ressentiments. Zur Rache muss sich allerdings noch das Gefühl der Ohnmacht gesellen. Beispiele für Ressentiments finden sich zahlreich, wo sich Menschen benachteiligt und hilflos führen, zu allen Zeiten der Geschichte, und in allen Ländern.
Einsamkeit
Es gibt eine seltsame Art von Bindung, wenn man sich zusammentut, um hinterrücks über jemanden zu urteilen. Wenn wir sehr einsam sind, kann selbst diese negative Form der Bindung ein Wir-Gefühl herstellen Diese Bindungen sind oberflächlich und haben keine wirkliche Substanz. Sie betäuben nur den Schmerz der Einsamkeit, ohne den Halt der Geborgenheit bieten zu können.
Unzufriedenheit
Wenn wir unzufrieden mit dem eigenen Leben sind, verurteilen wir leicht das Leben anderer. Treiber sind Trost aus Herabsetzung, Hilflosigkeit und Neid. (Deswegen liegt das Urteilen aus Gründen der Unzufriedenheit auch so nah beim Ressentiment. Beide schaffen die Illusion, Herr der Lage zu sein.) Wenn wir uns zum Beispiel eine feste Beziehung wünschen, und ein Freund verlobt sich, können wir uns mit dem Gedanken trösten: „Die ist eh nicht die Richtige für den. Ich weiß nicht, warum die heiraten.“
Zwang – Tyrannei des urteilenden Denkens
Menschen mit Zwangsstörungen haben aufdringliche, störende Gedanken (oder Bilder) – Gedanken darüber, Fehler zu machen, jemandem Schaden zuzufügen, sich zu beschmutzen, krank zu werden, religiöse Sorgen, Impulse oder Wünsche Dinge zu tun, die Sie für gefährlich, widerlich oder schmutzig halten. Mit anderen Worten, sie haben Gedanken oder Empfindungen, die Sie verurteilen. Sie denken, dass etwas mit ihrem Denken nicht stimmt – als ob sie nur reine und gute Gedanken und Gefühle haben sollten. Ihre Theorie besagt, dass sie nur dann gute Menschen sind, wenn sie bestimmte Gedanken haben. Alle anderen machen sie zu schlechten oder gefährlichen Menschen. Sie haben eine Menge „sollte“ über die Art und Weise, wie Sie denken und fühlen sollten. Sie denken, dass sie jetzt, wo sie den Gedanken haben, verantwortlich sind, sich zu beruhigen, die Kontrolle zu erlangen oder ihn loszuwerden. Sie setzen sich in diesem Urteil mit ihren Gedanken gleich und werden zu ihrer eigenen Gedankenpolizei. Dabei kommt es zu einer Gedanken-Handlungs-Fusion. Denken wird mit einer Handlung gleichgesetzt. „Wenn ich denke, dass ich gewalttätig werde, werde ich es tun.“ Oder ein Gedanke ist dasselbe wie die Realität. „Wenn ich glaube, ich habe Krebs, dann werde ich sterben.“ Gedanken, Handlungen und Wirklichkeit verschmelzen in diesem Selbst-Urteil.
Was jetzt folgt, ist die Selbstüberwachung. Sobald sie einen aufdringlichen Gedanken hatten, wachen sie argwöhnisch, ob er noch einmal auftaucht. „Oh Gott! Ich hatte gerade diesen Gedanken noch einmal.“ Die Beunruhigung führt zum Wunsch nach Kontrolle. Perfektion und Gewissenhaftigkeit sollen für Schutz vor Kontrollverlust und für Sicherheit sorgen.
Die erste Verteidigungslinie ist dann die Gedankenunterdrückung: „Denk das nicht.“ Das funktioniert wie die berühmte Aufforderung, auf gar keinen Fall an einen weißen Elefanten zu denken. Und das Unvermögen, Gedanken dauerhaft zu unterdrücken, führt zu neuen Urteilen: „Ich habe die Kontrolle verloren.“ Sie setzen nun die Kontrolle in Ihrem Leben mit der Beseitigung unerwünschter Gedanken gleich. Jetzt fühlen sie sich noch hilfloser bei dem vergeblichen Versuch, ihre Gedanken immer strenger zu kontrollieren.
In dieser Notlage tauchen Zwänge als Rettung auf – als Neutralisierungsritual: Hände waschen, einen bestimmten Weg wählen, nicht auf Risse im Asphalt treten, Dinge anordnen, Lichtschalter, Herd oder Türschloss immer wieder aus Neue überprüfen, bis sich ein Gefühl der Erleichterung einstellt. „Ich kann jetzt aufhören, weil ich das Gefühl habe, es ist genug.“ Dieses Gefühl der Erleichterung wird jetzt zum Gradmesser der Rituale. „Ich muss das tun, bis ich das Gefühl habe, es reicht.“
Schließlich gesellt sich zu dieser Verkettung von Urteilen, Gedanken und Ritualen noch die Vermeidung von Auslösern. Grundlage ist wiederum das Urteil, dass keine dieser Gedanken aufgekommen wären, bei Vermeidung der Auslöser. Die Betroffenen vermeiden es also, Dinge zu berühren, öffentliche Toiletten zu benutzen, Hände zu schütteln, Umgang mit Menschen, die sie dazu bringen, schlechte und ekelhafte Gefühle zu haben. Der Versuch auf Ritual und Vermeidung zu verzichten, ist schon beim Gedanken daran mit unerträglicher Angst verbunden. Also gibt es nur eins: vermeiden, vermeiden und vermeiden. Die Betroffenen versuchen, sich Bestätigung zu holen: „Sieht das für Sie nach Krebs aus?“ Andere neigen zum Grübeln: „Warum habe ich diese verdammten Gedanken? Werde ich verrückt?“ Selbst Alkohol oder Essanfälle dienen manchmal zur Abwehr gegen Gedankenkette. Auf jeden Fall laufen sie vor der bewussten Wahrnehmung der Gegenwart davon.
Wiederholte Kontrolle, ob wir den Autoschlüssel eingesteckt oder abgeschlossen haben, kennen wir alle. Und wenn sich unsere Befürchtung als grundlos erweist, schmunzeln wir vielleicht über uns selbst. Aber wenn Zwang und Vermeidung unseren Alltag so beherrschen, dass Lebensqualität, Berufsausübung oder Beziehungen leiden, ist eine Behandlung notwendig.
Nicht-Urteilen
Achtsamkeit ist das Gegenteil der beschriebenen Gedanken-Handlungs-Fusion. Sie erkennt bewertende Gedanken und ersetzt sie durch neutrale Beobachtung, so, wie wir Wolken am Himmel zuschauen. Es geht nicht darum diese Gedanken zu unterdrücken. Das wäre unmöglich. Ziel ist, diese Gedanken, sobald sie auftreten, wahrzunehmen und zu beobachten, und sie dann ziehen zu lassen, wie eine Wolke. Danach kehrt man zur neutralen Beobachtung zurück.
Jede Rückkehr von einem Gedanken zum Atmen ist wie eine Perle auf einer Schnur.
Gedanken sind in gewisser Weise tatsächlich wie Wolken. Wie alle Erscheinungen im Bewusstsein tauchen sie auf, verändern sich, und ziehen davon oder lösen sich auf. (Den Wolkenbruch lassen wir hier außer Acht.) Auch wenn man sich in den Gedanken verliert, und das Gedankenkarussell beginnt, verurteilt man sich nicht, weil man diese Gedanken hat. Man stellt fest, dass ein Gedanke im Bewusstsein aufgetaucht ist, wie eine Wolke am Himmel. Man sagt innerlich ruhig: „Gedanke“ und lässt den Gedanken los. Ohne Ärger und Ungeduld kehrt man die Aufmerksamkeit wieder dem Atem zu.
Diese Übung des Nicht-Urteilens lässt sich auch in den Alltag integrieren.
Versuchen Sie, zum Beispiel beim nächsten Spaziergang, oder beim Warten an der Haltestelle – als neutraler Beobachter – alles um Sie herum: Menschen,
Dinge, Ereignisse, ohne alle Verbissenheit einfach wahrzunehmen ohne zu urteilen. Ungefähr so, als sollten Sie nach dem Spaziergang alles malen, was Sie gesehen haben und versuchten sich daher alle Einzelheiten einzuprägen. Selbst beim Abwaschen kann man diese Übung machen (oder beim Füllen und Räumen des Geschirrspülers…) Dann gewinnen Sie nicht nur Einsichten, sondern auch das Wohlwollen Ihrer besseren Hälfte mit Ihrer Achtsamkeitsübung.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Erkennen und Beobachten!
Im nächsten Blogbeitrag geht es weiter mit #2 Geduld.
Quelle:
Jon Kabat-Zinn: Gesund durch Meditation – Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR.
Chögyam Trungpa: Erziehung des Herzens. Buddhistisches Geistestraining als Weg zu Liebe und Mitgefühl
Sam Harris: Waking Up: A Guide to Spirituality without Religion (2015)