Die Addiction Economy – Wie moderne Geschäftsmodelle unsere Psyche ausbeuten
- Die Addiction Economy – Wie moderne Geschäftsmodelle unsere Psyche ausbeuten
- Einleitung
- Die Mechanismen der Addiction Economy
- Die unbewussten Antriebe
- Selbstideal und Soziale Medien
- Leben in der Hyperrealität
- Die Gesellschaft des Spektakels
- Symbolische Macht und Social Media Metriken
- Psychologische und soziale Auswirkungen
- Umgang mit der Addiction Economy
- Medienkompetenz
- Fazit
Einleitung
Die Addiction Economy lebt von Addictive Design, die Ausgestaltung ansprechender digitaler Produkte und Dienstleistungen, die die Aufmerksamkeit der Nutzer fesselt. Mit Erkenntnissen aus der Psychologie und der Verhaltenswissenschaft werden so eingesetzt, dass sie Nutzer möglichst stark an sich binden, hin zu einer Abhängigkeit.
Die Mechanismen der Addiction Economy
Die Addiction Economy bedient sich dazu verschiedener Mechanismen.
Intermittierende Belohnungen
Intermittierende Belohnungen sind ein mächtiges Werkzeug in der Addiction Economy. Ähnlich wie bei Spielautomaten werden Belohnungen in unvorhersehbaren Zeitabständen gewährt. Das erhält die Spannung aufrecht und macht es schwer, aufzuhören. Social-Media-Plattformen nutzen oft Likes, Kommentare und Shares als Belohnungen, damit die Nutzer immer wieder zurückkommen.
Personalisierung
Algorithmen verfolgen das Nutzerverhalten, um Inhalte, Werbung und Empfehlungen zu personalisieren. Durch dieses maßgeschneiderte Erlebnis fühlen sich die Nutzer verstanden und geschätzt und verbringen mehr Zeit auf der Plattform. Das Empfehlungssystem von Netflix und der Newsfeed von Facebook sind Paradebeispiele für Personalisierungen.
Gamification
Die Integration von Spiel-Elementen wie Punkten, Levels und Preise in nicht spielerische Kontexte steigert die Einbindung enorm. Apps wie Duolingo und Fitness-Tracker wie Fitbit nutzen Gamification, um Kunden bei der Stange zu halten.
Soziale Bestätigung
Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis nach sozialer Bestätigung. Plattformen nutzen das aus, mit Zustimmung und Anerkennung von Gleichgesinnten. Die Likes bei Instagram und die Retweets bei Twitter sind Beispiele dafür, wie soziale Bestätigung die Nutzer ködert.
Infinite Scrolling und Autoplay
Infinite Scrolling und Autoplay beschäftigen Nutzer ununterbrochen. Dieses Design verringert die Wahrscheinlichkeit, dass Nutzer sich von den Inhalten abwenden, und verlängert so ihre Verweildauer auf der Plattform.
Es geht also immer um dasselbe menschliche Gewohnheiten trainieren, Verhalten manipulieren und zur regelmäßigen Nutzung unnötiger Produkte animieren. Auslöser triggert eine Handlung, die mal belohnt, mal nicht belohnt wird. Die Belohnung veranlasst zu einer erneuten Interaktion.
Trigger können Langeweile oder FOMO (Fear of Missing Out) sein. Sie bereiten den Boden für das Nudging von der Anwendung, die zu einer Handlung verführt, etwa, 𝕏 zu öffnen. 𝕏 lässt den Nutzer unendlich scrollen, und belohnt ihn zwischendrin mit Likes. Das ist ein positiver Verstärker des Nutzerverhaltens und regt ihn an, einen neuen Tweet zu posten. Likes auf Twitter führen außerdem dazu, dass Nutzer Wert oder Bedeutung ihrer Beiträge an der Anzahl der Likes und Retweets messen. Das schafft Neugier und neue FOMO, wenn der Nutzer die App gerade nicht nutzt und schwupp, öffnet er sie wieder, um zu sehen, ob er noch mehr Likes erhalten hat.
Diese Verbindung von Belohnungseffekt, der im Gehirn durch Dopamin vermittelt wird, und Spannung, die zur Ausschüttung von Adrenalin führt, macht unglaublich schnell süchtig, wie die Spielsucht zeigt, viel schneller als die beiden Botenstoffe für sich genommen.
Die unbewussten Antriebe
Das Herzstück der Addiction Economy ist die Manipulation von tiefsitzenden Antrieben. Die psychodynamische Theorie, insbesondere die Arbeiten von Sigmund Freud und späteren Psychoanalytikern, untersucht, wie unbewusste Wünsche und Konflikte das Verhalten prägen. Das ständige Bedürfnis nach Bestätigung und sozialer Anerkennung, das sich in der Nutzung sozialer Medien zeigt, ist, durch die Brille der psychodynamischen Theorie betrachtet, Ausdruck ungelöster Konflikte in der Kindheit und des Strebens nach Steigerung des Selbstwerts.
Nach Freud wird das menschliche Verhalten weitgehend von unbewussten Motiven und Wünschen beeinflusst. Die Addiction Economy nutzt das aus, indem sie Umgebungen schafft, die Lust vermitteln und Verhalten durch Belohnungen verstärken. Die Befriedigung, die Nutzer empfinden, wenn sie Likes auf sozialen Medien erhalten, bedient ihr Bedürfnis nach Bestätigung und Anerkennung, das tief in frühen Entwicklungserfahrungen verwurzelt ist.
Selbstideal und Soziale Medien
Karen Horneys Konzept der neurotischen Selbstidealisierung bietet einen weiteren Einblick in die Addiction Economy. Horney stellte fest, dass Menschen oft idealisierte Versionen von sich selbst schaffen, um mit Gefühlen der Unzulänglichkeit und Unsicherheit fertig zu werden. Soziale Medienplattformen verstärken diese Tendenz noch, indem sie den Nutzern Werkzeuge zur Schaffung idealisierter Versionen ihres Lebens anbieten. Die kuratierten Bilder und Status-Updates spiegeln weniger die Realität wider, sondern vielmehr oft ein überhöhtes, oft unerreichbares Selbstbild, was zu einem Kreislauf aus Vergleichen, Neid und weiterem Engagement auf der Suche nach Bestätigung führt.
Horneys Theorie besagt, dass dieses ständige Streben nach einem idealisierten Selbst zu Gefühlen der Frustration und Unzufriedenheit führt, wenn die Realität zunehmend hinter dem Ideal zurückbleibt. Soziale Medien verstärken diese Gefühle. Sie bieten dem, ständigen Vergleich mit anderen eine Plattform. Dadurch entsteht eine Rückkopplungsschleife, in der sich der Einzelne gezwungen fühlt, seine „Online-Persönlichkeit“ zu optimieren, und immer mehr Zeit auf diesen Plattformen zu verbringen.
Leben in der Hyperrealität
Jean Baudrillards Theorie der Konsumgesellschaft und der Simulakren erweitert unser Verständnis der Addiction Economy in den Bereich der Hyperrealität. Baudrillard argumentierte, dass in einer mediengesättigten Gesellschaft die Darstellungen der Realität (Simulakren) realer werden als die Realität selbst. Die sozialen Medien mit ihren Filtern und kuratierten Inhalten schaffen eine hyperreale Umgebung, in der sich die Nutzer eher mit Simulationen als mit der realen Welt beschäftigen. Durch die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Repräsentation sind die Nutzer in einem ständigen Kreislauf der Suche nach Bestätigung innerhalb einer konstruierten Realität gefangen.
In seiner Kritik an der Konsumgesellschaft erklärte Baudrillard, wie der Konsum für den Einzelnen zum Mittel wird, Identität auszudrücken und Zugehörigkeit zu erleben. Im Dazu stellt Addiction Economy unablässig digitale Inhalte bereit, damit wir uns verbunden und bestätigt fühlen. Baudrillards Konzept der Hyperrealität legt nahe, dass Nutzer mehr in die Darstellungen der Realität investieren, die sie online finden, als in ihre tatsächlichen Erfahrungen, was zu Loslösung von der realen Welt und einem verstärkten Fokus auf die Aufrechterhaltung und Verbesserung der eigenen Online-Präsenz führt.
Die Gesellschaft des Spektakels
Guy Debords Konzept der Gesellschaft des Spektakels ergänzt Baudrillards Ideen, indem er hervorhebt, wie das gesellschaftliche Leben von Bildern dominiert wird. Für Debord ist das Spektakel nicht nur eine Ansammlung von Bildern, sondern eine soziale Beziehung, die durch Bilder vermittelt wird. Die Addiction Economy verwandelt alle Aspekte des Lebens in Waren, die konsumiert werden können, einschließlich des Ummünzens persönliche Erfahrungen in Inhalte, und fördern eine Gesellschaft, in der der Schein und die Darstellung authentische menschliche Beziehungen überlagern.
Debord argumentierte, dass in einer vom Spektakel beherrschten Gesellschaft, wird das Echte der Darstellung untergeordnet. Dieser Wertewandel hat weitreichende Auswirkungen auf soziale Interaktionen, da sich die Menschen mehr damit beschäftigen, wie ihr Leben für andere aussieht, als damit, wie sie tatsächlich leben. Die Addiction Economy stellt die Plattformen zur Verfügung, die die Produktion und den Konsum von Bildern belohnen und die Nutzer dazu ermutigen, sich intensiver mit diesen Darstellungen zu beschäftigen.
Symbolische Macht und Social Media Metriken
Pierre Bourdieus Begriff der symbolischen Macht hilft zu erklären, wie die Addiction Economy ihren Einfluss aufrechterhält. Symbolische Macht ist die Fähigkeit, Bedeutungen aufzuerlegen und sie als legitim durchzusetzen. Soziale Medienplattformen üben symbolische Macht aus, indem sie Normen und Werte rund um sozialen Status und Erfolg prägen. Likes, Shares und Follower werden zu Symbolen des sozialen Kapitals, die den Einzelnen dazu bringen, sich der Logik der Plattform anzupassen, um Status und Anerkennung zu erlangen.
Bourdieus Konzept der symbolischen Macht legt nahe, dass die von sozialen Medienplattformen verwendeten Kennzahlen also nicht nur Maßstäbe für das Engagement sind, sondern vor allem Symbole für den sozialen Wert. Diese »Kennzahlen« beeinflussen, wie der Einzelne sich selbst und andere wahrnimmt, und verstärken bestimmte Verhaltensweisen und Normen. In der Addiction Economy treiben diese Symbole des sozialen Kapitals Nutzer dazu, mehr Interaktionen mit seinen Inhalten zu erreichen, was zu einer höheren Verweildauer auf den Plattformen und einer größeren Abhängigkeit führt.
Psychologische und soziale Auswirkungen
Die Addiction Economy liefert aber nicht nur Futter für gesellschaftswissenschaftliche Analysen, sondern hat leider erhebliche psychologische Auswirkungen.
Reduzierte Aufmerksamkeitsspanne
Die ständige Beschäftigung mit hochgradig stimulierenden Inhalten setzt die Fähigkeit der Nutzer herab, sich auf Aufgaben zu konzentrieren, die anhaltende Aufmerksamkeit erfordern. Die ständige Flut von Benachrichtigungen und Aktualisierungen fragmentiert die Aufmerksamkeit, fragmentieren und sorgt bei schwierigen oder zeitraubenden Aufgaben rasch für Langeweile, wenn der nächste »Kick« ausbleibt.
Ängste und Depressionen
Der ständige Vergleich mit idealisierten Darstellungen des Lebens anderer in den sozialen Medien erzeugt zu Gefühlen der Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit, Ängste und Depressionen. Der Druck zur Aufrechterhaltung, er idealisierten Online-Präsenz, führ zu enormem Stress und mündet in Erschöpfung.
Gestörter Schlafrhythmus
Übermäßige Bildschirmzeit, besonders vor dem Schlafengehen, stört Schlafqualität und -rhythmus. Das von Bildschirmen ausgestrahlte blaue Licht unterbricht die Produktion von Melatonin, einem schlafanstoßenden Hormon.
Beziehungsstörungen
Auf sozialer Ebene fördert die Addiction Economy oberflächliche Beziehungen und verschärft gesellschaftliche Spaltung. Das Streben nach sozialer Bestätigung durch digitale Plattformen schwächt authentische zwischenmenschliche Beziehungen und unterwirft Menschen einer Bewertung aufgrund ihrer Online-Präsenz statt ihrer Eigenschaften in der realen Welt.
Umgang mit der Addiction Economy
Um die Auswirkungen der Addiction Economy abzumildern, können Einzelne und die Gesellschaft verschiedene Strategien anwenden
Selbststeuerung
Es ist wichtig, sich digitale Konsumgewohnheiten klarzumachen und bewusste Entscheidungen über den eigenen Medienkonsum zu treffen. Techniken wie die Achtsamkeitsmeditation verbessern die Selbststeuerung. Apps wie Headspace und Calm entwickeln dazu nötige Achtsamkeit.
Digitale Entgiftung
Regelmäßige Pausen von digitalen Endgeräten erlauben, das Belohnungssystem des Gehirns zurückzusetzen. Die Festlegung bestimmter Zeiten für digitalfreie Aktivitäten verringert so die Abhängigkeit. Reale Aktivitäten wie Freunde treffen, Lesen, Sport oder Zeit im Freien bieten erfrischende Alternativen zum digitalen Konsum.
Grenzen setzen
Bildschirmzeit zu begrenzen und unwichtige Benachrichtigungen abzuschalten, stoppt den zwanghaften Drang, ständig auf Geräte zu schauen. Eine technikfreie Zeit vor dem Zubettgehen verbessert die Schlafqualität.
Medienkompetenz
Nur wer versteht, wie Addictive Design und Social-Media-Algorithmen funktionieren, kann seinen Social-Media-Konsum bewusst gestalten. Es wäre naiver Idealismus, zu meinen, man könne Unternehmen zu ethischem Design bewegen und die psychologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Produkte zu berücksichtigen. Denn wenn die Anbieter von Gadgets, Plattformen und Apps überhaupt nutzerzentrierte Funktionen implementieren, sogar solche, die Nutzern ermöglichen, ihr Nutzerverhalten zu überwachen und zu kontrollieren, dann auch nur mit dem Ziel der Gamification. Tools wie Bildschirmzeit-Tracker, Benachrichtigungskontrollen und Pausenerinnerungen ermöglichen es den Nutzern scheinbar, ihren digitalen Konsum proaktiv zu steuern. Sie dienen aber hauptsächlich als Nudge, wieder mit dem Produkt zu interagieren und verschaffen außerdem den Unternehmen Einblicke in das Nutzungsverhalten.
Aber natürlich steht es Nutzern immer frei, fundierte Entscheidungen über ihr Verhalten auf digitalen Plattformen treffen.
Fazit
Die Addiction Economy hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Psychologie des Einzelnen und die gesellschaftliche Dynamik im Allgemeinen. Es kommt darauf an, die Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren zu verstehen und Strategien zu ihrer Überwindung zu entwickeln, um wir die Kontrolle über unser digitales Leben zurückzugewinnen. Die Einführung ethischer Designpraktiken und die Unterstützung von Technologien, die dem Wohlbefinden der Nutzer Vorrang vor Engagement-Metriken einräumen, sind von der Industrie nicht zu erwarten.
Quellen
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