Gesichter, Scham, faces, shame

The faces of shame

Die Vielschichtigkeit der Scham: Einblicke und Fragen zur Bewältigung

 

Scham wird in verschiedenen Weisen definiert. Léon Wurmser stellt in Die Masken der Scham – Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten fest, dass Scham ein uraltes Gefühl ist und eine wichtige Abwehr gegenüber anderen Gefühlen darstellt. Scham wird oft mit Schwäche, Makeln und Schande assoziiert. Aber auch Zärtlichkeit, Liebe und ein Gefühl der Abhängigkeit Scham auslösen. Scham kann offen zutage treten oder verdrängt werden, selbst auf bestimmte Themen bezogene Schamgefühle können auf ein tieferes und umfassenderes Schamgefühl hinweisen.

Susan B. Miller definiert Scham in Shame in Context als eine Gruppe von Erfahrungen, die auf frühen Verletzungen des Selbstvertrauens beruhen und negative Bewertungen des Selbst in Bezug auf Erwartungen, Werte, Regeln und Ziele beinhalten. Scham ist das Gefühl der Mangelhaftigkeit und tritt auf, wenn man sich als defekt oder nicht gut genug empfindet.

Wichtig für das Verständnis und die Wucht von Schamgefühlen ist, dass Scham auch von einer besonderen Form von Angst begleitet wird, Angst vor der drohenden Gefahr der Bloßstellung, Demütigung und Zurückweisung.

Scham kann sowohl eine Antwort auf die Hilflosigkeit in früheren Traumata sein als auch durch aktuelle Erniedrigungen und Bloßstellungen ausgelöst werden.

Schamauslöser

Schamgefühle können verschiedene Ursachen haben:

  1. Gefühl der Schwäche oder des Versagens in Wettbewerbssituationen.
  2. Sich schmutzig oder verachtet fühlen.
  3. Den Eindruck haben, in körperlicher oder geistiger Hinsicht unzureichend zu sein.
  4. Kontrollverlust über Körperfunktionen oder Emotionen.
  5. Sexuelle Erregung durch Leid, Demütigung oder Schmerz.
  6. Angst, dass das Zeigen oder Wahrnehmen von etwas bestraft werden könnte.

Menschen versuchen oft, diese Schamgefühle zu bewältigen, indem sie etwa andere herabsetzen, sich in Selbstüberschätzung flüchten oder die Realität verleugnen. Scham kann auch als Schutzmechanismus gegen tiefere Ängste dienen. Es gibt Situationen, in denen Scham und Schuldgefühle entgegengesetzt erscheinen, wie  bei Wettbewerb oder sexueller Offenheit. Philosophisch betrachtet, sind solche scheinbaren Gegensätze oft miteinander verbunden und bilden ein Ganzes. Scham ist somit ein Teil dieser komplexen, dialektischen Wechselbeziehungen.

Schamgefühle

Es gibt verschiedene Gefühle in schambesetzten Situationen:

  1. Schamangst ist eine Form der Scham, bei der das Individuum Angst vor Bloßstellung und Erniedrigung.
  2. Depressive Beschämtheit ist eine Form der Scham, bei der Betroffene sich selbst als wertlos, defekt oder schmutzig empfinden.
  3. Schamgefühl als Reaktionsbildung: Die Abwehr durch Reaktionsbildung ist ein psychologischer Mechanismus, bei dem ein Mensch unbewusst Gefühle oder Impulse, die als unakzeptabel empfunden werden, durch das Gegenteil ersetzt. Zum Beispiel könnte jemand, der starke Aggressionen gegenüber einer Person empfindet, diese Gefühle unterdrücken und stattdessen übertriebene Freundlichkeit oder Zuneigung an den Tag legen. Diese Umwandlung hilft, mit inneren Konflikten oder gesellschaftlich unerwünschten Gefühlen umzugehen, indem sie sie in sozial akzeptablere Formen umformt. Bei Scham als Reaktionsbildung die wahre Scham verborgen und durch behauptete Überlegenheit oder Selbstgerechtigkeit verdeckt.
  4. Scham bei Hilflosigkeit: Diese Form der Scham entsteht, wenn sich das Gefühl einstellt, in seinen Fähigkeiten oder Leistungen versagt zu haben.
  5. Scham bei Verletzung der Selbst- und Intimitätsgrenzen: Diese Form der Scham tritt auf, wenn persönliche Grenzen überschritten werden, beispielsweise durch Übergriffe oder Missbrauch.
  6. Scham in Bezug auf die eigene Körperlichkeit: Hierbei schämen sich Betroffene für körperliche Merkmale oder auch das plötzliche Sichtbarwerden von Selbstanteilen.
  7. Scham in Bezug auf Diskrepanzen zwischen Selbst und Ideal: Diese Form der Scham tritt auf, wenn Selbstbeurteilung zu dem Schluss kommt, den eigenen Idealen nicht gerecht zu werden.
  8. Scham in Bezug auf schuldhaftes Handeln: Schließlich bezieht sich Scham auch auf schuldhaftes Verhalte. Dann geht sie häufig mit Schuldgefühlen einher.

Schambewältigung

Es gibt verschiedene Arten, wie wir Scham erleben und damit umgehen. Dazu gehören:

  1. Das Minderwertigkeitsgefühl

Dieses Gesicht der Scham beinhaltet Gefühle der Unzulänglichkeit oder Fehlerhaftigkeit und führt zu einem Drang, sich ständig beweisen zu müssen, und, als Ausgleich, zu Überheblichkeit, wenn etwas schiefläuft. Diese Menschen kämpfen also mit Schamgefühlen, die aus wahrgenommener Unzulänglichkeit resultieren, und haben ein tiefes Bedürfnis, ununterbrochen gut dazustehen. Kritik verletzt sie tief.

  1. Die toxischen Selbstzweifel

Dieses Gesicht der Scham ist durch ständigen Selbstzweifel und intensiven Kummer gekennzeichnet. Scham dieses Typs wird erlebt als ständige Attacke sich wiederholender Gedanken und kann das ganze Leben durch emotionale Dysregulation in ein Chaos verwandeln. Solche Menschen kämpfen in verschiedenen Situationen mit Scham. Ihr Selbstwertgefühl kann durch ein Schamereignis völlig zerstört werden.

  1. Die Verdrängung

Dissoziation ist gekennzeichnet durch ungewollte Unterbrechung in der Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Emotion, Wahrnehmung, Körperrepräsentation, motorischer Kontrolle und Verhalten. Auch Scham kann solche Zustände auslösen. Menschen mit diesem Typ von Scham können ihre Schamerfahrungen vollständig von sich weisen, sie verdrängen und stattdessen scheinbar Späße machen und Unternehmungslust an den Tag legen, während sie unbewusst mit ihrer Scham ringen. Wenn die Scham jedoch überwältigend wird, müssen sie ein Gleichgewicht herstellen, indem sie sich selbst erhöhen und andere herabsetzen.

Ausgehend von diesen Gesichtern der Scham lassen sich Hinweise für den Umgang mit Scham ableiten.

  1. Es ist wichtig zu erkennen, dass Menschen zu einer bestimmten Art der Bewältigung ihrer Scham neigen, dabei sind Mischformen der Scham üblich.
  2. Um chronische Scham wirksam zu erkennen und zu behandeln, ist der unbewusste Stil der Schambewältigung zu berücksichtigen.
  3. Scham erzeugt Leidensdruck. Schamthemen sind verflochten und vielfältig.
  4. Eigene Scham und deren Auswirkungen drängen sich leicht in den Umgang mit anderen, wenn sie unbewusst bleiben.

Zum erfolgreichen Umgang mit Scham gehört, sie als eine komplexe und vielschichtige Erfahrung zu verstehen und ihre Ursprünge, Auslöser und Muster aufzudecken. Dieser Prozess erfordert tiefgehende Fragen, Selbstreflexion, Selbstmitgefühl und Achtsamkeit. Aber auch Empathie und Freundlichkeit gegenüber anderen müssen aktiviert werden.

Ebenso geht es darum, die Erzählmuster der Scham zu untersuchen und ihre Auswirkungen auf das eigene Selbstverständnis zu verstehen. So wird ein Kontext geschaffen, in dem Scham anerkannt und in eine Verbindung zu Demut der universellen Erfahrung menschlicher Zerbrechlichkeit und Fehlern und zu Gefühlen der Nähe und Verbundenheit umgewandelt.

Fragen zur Selbstreflexion

  1. Wie sind Sie bisher mit Scham umgegangen?
  2. Wie geht es Ihnen damit? Denken Sie über Ihre aktuellen Gefühle in Bezug auf Ihre Scham nach.
  3. Was löst Ihre Scham aus?
  4. Was ist die Verbindung zwischen Auslöser und Beschämung?
  5. Wofür möchten Sie Verantwortung übernehmen?
  6. Wofür können Sie wirklich Verantwortung übernehmen?
  7. Löst Schuld die Scham aus? Wenn ja, worin liegt die Verbindung?
  8. Wie können Sie sich selbst verzeihen?
  9. Was lernen Sie aus Ihrer Schuld?
  10. Wie können Sie sich aus Ihren Schamgefühlen heraus persönlich weiterentwickeln?
  11. Welche Unterstützung brauchen Sie dafür?
  12. Wer kann Sie dabei unterstützen?

Schlussfolgerung:

Alles in allem entsteht Scham also aus Gefühlen der Mangelhaftigkeit, Bloßstellung, Demütigung und Zurückweisung. Sie kann sowohl eine Abwehr gegenüber anderen Affekten als auch Antwort auf bestimmte Situationen und Handlungen sein. Scham ist eng mit Angst verbunden.

Effektiver Umgang mit Scham erfordert ein tiefes Verständnis und eine ganzheitliche Betrachtung. Ein Ansatz, der Selbstmitgefühl und Achtsamkeit einbezieht, ist entscheidend.

Quellen:

Ashley, Patti. 2020. Shame-Informed Therapy: Treatment Strategies to Overcome Core Shame and Reconstruct the Authentic Self. Eau Claire, Wisconsin: Pesi Publishing & Media.

DeYoung, Patricia A. 2021. Understanding and Treating Chronic Shame: Healing Right Brain Relational Trauma. New York: Routledge.

Klein, Melanie. 1984. Love, Guilt, and Reparation, and Other Works, 1921-1945. New York: The Free Press.

Lammers, Maren. 2020. Scham und Schuld – Behandlungsmodule Für Den Therapiealltag. Stuttgart: Klett-Cotta.

Miller, Susan. 2013. Shame in Context. Routledge.Stemper, Dirk. 2023. Toxische Schuld und Scham: Das Arbeitsbuch Für Selbstwertgefühl. Berlin: Psychologie Halensee.

Wurmser, Leon. 2011. Die Maske der Scham: Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Berlin – Heidelberg: Springer.

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