Die Vier F: Fight, Flight, Freeze und Fawn
Da wir in Kindheit und Jugend zunehmend komplexe Reaktionen auf andere erst erlernen und, als Kinder, keine Möglichkeit haben, Missbrauch jeglicher Art zu verstehen, ist es nicht verwunderlich, dass Säuglinge und Kinder Traumareaktionen zeigen, die wir mit unseren tierischen Vorfahren teilen: die vier F.
Bei Tieren löst eine Bedrohung zunächst eine erhöhte Aufmerksamkeit aus, die nach weiteren Informationen über die Bedrohung sucht und schließlich zu sofortigem Erstarren, Kampf oder Flucht führt. Bei Bedrohungen durch andere Tiere geht es dabei meist um visuelle Hinweise, Geräusche und Körpersprache, die die Absichten des anderen Tieres verraten. Eine komplexe neuronale Verdrahtung ermöglicht es, auf vier verschiedene Arten zu reagieren. Eine vollständigere und genauere Beschreibung dieses Instinkts müsste eigentlich Angriff/Flucht/Totstellen/Unterwerfung lauten. Letzteres ist eine typische Reaktion von Rudel- oder Herdentieren. Die vier F sind also eine angeborene, automatische Reaktion, die bei jeder wahrgenommenen Gefahr ausgelöst wird, bei Tieren und Menschen gleichermaßen. Angriff ist eine aggressive Reaktion; Flucht bedeutet, vor der Gefahr zu fliehen oder, symbolisch gesehen, in Hyperaktivität zu verfallen. Totstellen oder Erstarrung wird ausgelöst, wenn Widerstand aussichtslos erscheint und dazu führt, dass man aufgibt, sich betäubt oder sich auf andere Weise distanziert und die Unvermeidlichkeit von Verletzungen akzeptiert. Die Unterwerfung schließlich nutzt Beschwichtigung, um Angriffen oder Verlassenwerden zu entgehen. Nach den englischen Begriffen in der Erstbeschreibung (fight, flight, freeze und fawn) werden die vier Arten von Reaktionen auf Kindheitstraumata werden daher als die vier F bezeichnet.
Übrigens haben auch die vier F-Aktionen eine Richtung – das Individuum kann entweder gegen eine Bedrohung ankämpfen oder vor ihr fliehen, oder es kann für etwas kämpfen oder zu etwas hinfliegen, etwa das rettende Ufer eines reißenden Flusses. Andere Tiere verfügen über verschiedene Methoden des Selbstschutzes, z. B. ändern sie ihre Farbe, um sich zu tarnen, um der Gefangennahme zu entgehen, entweder auf physische oder sensorische Weise. Flucht kann also bedeuten, an einen anderen Ort zu verschwinden oder einfach an Ort und Stelle zu verschwinden, und Kampf und Flucht werden in einer bestimmten Situation oft kombiniert.
Die vier F werden auch als Hyperarousal oder akute Stressreaktion zusammengefasst. Sie erfordern eine allgemeine Entladung des sympathischen Nervensystems, um die beschriebenen Handlungen vorzubereiten. Der Ursprung dieser Entladung sind kleine, dreieckige Drüsen, die sich oben auf den beiden Nieren befinden – die Nebennieren. Sie regulieren unseren Stoffwechsel, das Immunsystem, den Blutdruck, die Reaktion auf Stress und andere wichtige Funktionen. Im Falle einer Bedrohung setzen sie eine Kaskade von Hormonen frei, darunter die Stresssignale Noradrenalin und Adrenalin, aber auch Östrogen, Testosteron und Cortisol sowie die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin, die alle die Reaktion des Organismus auf Stress beeinflussen.
Die Vier F – Entstehung
Angesichts eines Traumas reagieren Kinder automatisch mit einer dieser angeborenen Reaktionen, um zu überleben, und mit der Zeit entwickeln sich die vier F zu einem mehr oder weniger stabilen Muster, zu dem auch ausgefeiltere Ich-Abwehrmechanismen wie Narzissmus (Angriff), zwanghaftes Verhalten (Flucht), Dissoziation (Erstarren) oder Co-Abhängigkeit (Unterwerfung) gehören. Während sie Kindern helfen, emotionale Qual zu überleben, machen sie ihre Reaktionen auf das Leben und die Bindung an andere, auch im Erwachsenenalter, starr und einseitig, auch wenn sie sich gar nicht mehr auf solche primären Reaktionsmuster verlassen müssten. Das Muster, das bei jedem Überlebenden eines Traumas auftritt, hängt sowohl von der tatsächlichen Erfahrung des Missbrauchs als auch von der Geburtsreihenfolge und sogar von der angeborenen Temperamentsausstattung ab. Das Vier-F-Muster ist für jedes Individuum spezifisch.
Die Vier F – Flucht
Sündenbocksuche ist eine Form von Mobbing, bei der emotionaler Schmerz, Stress und Frustration auf eine schwächere Person verschoben werden. Jemanden zum Sündenbock zu machen, verschafft eine gewisse Erleichterung, aber da es den Schmerz des Mobbers unverändert lässt, setzt die Sündenbocksuche bald wieder ein, wenn der Kummer des Mobbers erneut erwacht. Das Sündenbockverhalten von Eltern oder Geschwistern nimmt viele Formen an, bis hin zur Manipulation einer ganzen gestörten Familie, die sich gegen den Sündenbock verbündet. Das Opfer fühlt sich gedemütigt und überwältigt. Es hat weder die Macht zu protestieren noch die Fähigkeit, die Ungerechtigkeit des Missbrauchs zu begreifen, und ist schließlich davon überzeugt, dass es selbst die Ursache des Missbrauchs ist, weil es böse, schlecht und mit fatalen Fehlern behaftet ist. Kinder gelangen sogar zu der Überzeugung, dass sie nichts Besseres als die Verfolgung verdienten. Wenn man einem Kind schon früh verächtlich vorwirft, dass es die Windel beschmutzt hat, bevor es überhaupt ein Jahr alt ist, und es dafür bestraft, dass es Lärm macht und spontan, verspielt und fröhlich ist, führt dies zu einem permanenten angstgesteuerten Erregungsniveau, das an ADHS grenzt. Leider können solche Kinder auch nach der Flucht aus ihrer toxischen Familie symbolisch an den Missbrauch gekettet bleiben, indem sie sich in die Fänge narzisstischer Menschen begeben, die sich als ebenso missbräuchlich und vernachlässigend erweisen wie ihre Eltern. Dieses psychologische Phänomen, das bei Traumaüberlebenden häufig auftritt, wird als Wiederholungszwang oder Reenactment bezeichnet.
Die Vier F – Angriff
Apropos Narzissten: Ein Kind, das die narzisstischen Erwartungen eines Elternteils erfüllt, wird zu einem Streber, um den Entzug der elterlichen Anerkennung für weniger als perfekte Leistungen zu vermeiden. Der Kontrast zwischen einem kleinen Lob für herausragende Leistungen, das ein positives Licht auf die Eltern wirft, und der Ablehnung oder dem Entzug von Zuneigung bei weniger guten Leistungen macht ein solches Kind anfällig für Perfektionismus und die Fähigkeit eines Narzissten, andere als Sündenböcke zu identifizieren, um seinen eigenen emotionalen Schmerz zu entladen. Die Verletzung durch die Eltern führt so zu einem narzisstischen „Kontrollfreak“, der immer bereit ist, seinen Partner genau so zu formen, wie er selbst geformt wurde.
Die Vier F – Totstellen
Wenn ein Kind eher Vernachlässigung als dysfunktionale elterliche Zuwendung erfährt, kann es zu einem klassischen „lost child“ werden, das sich selbst überlassen ist. Essen und Tagträumen werden für solche Kinder zu den ersten Quellen von Trost, während sie so weit wie möglich in ihrer eigenen kleinen Welt bleiben. Schließlich können sie in eine lähmende, dissoziative Depression abgleiten, mit extremer Angst und Vermeidungsverhalten vor jeder sozialen Situation. Wenn dann noch das Fernsehen hinzukommt, hat man das Rezept für eine Bindungsstörung, bei der die Bindung an das Fernsehen größer ist als an Menschen. Betäubungsmittel, Essstörungen oder Horten können Ausdruck der zugrunde liegenden Ängste sein, wenn aus solchen Kindern Erwachsene werden.
Die Vier F – Unterwerfung
Wenn ein sensibles und mitfühlendes Kind von Vernachlässigung betroffen ist, kann es lernen, dass es den misshandelnden Elternteil ausreichend studieren, seine Bedürfnisse herausfinden und für sie sorgen kann, um Angreifer zu beruhigen, seine Übergriffe weniger gefährlich oder giftig zu machen oder auch nur ein kleines bisschen seiner Aufmerksamkeit zu gewinnen. Solche Kinder lernen, ihre Fähigkeiten zu verfeinern und die wunden Punkte, Stimmungen und Vorlieben des misshandelnden Elternteils fast hellseherisch zu erahnen und sie zu erfüllen, noch bevor der misshandelnde Elternteil von seinen Wünschen weiß, um seine Wut zu entschärfen und nach ein Fitzelchen Zuwendung zu bekommen. In diesem toxischen Zusammenspiel macht der missbrauchende Elternteil das Kind zur „narzisstischen Verlängerung“ seiner eigenen Bedürftigkeit, indem er dessen Bereitschaft, zu gefallen, und sein gutmütiges Wesen ausnutzt und es in die Rolle eines Dieners im Haushalt versetzt. Diese Verstrickung kann dazu führen, dass das Kind dem missbrauchenden Elternteil gegenüber bis ins Erwachsenenalter hinein unangemessen loyal ist, was zu einer Verstrickung in Form einer co-abhängigen Sklaverei führt.
Wie bereits erwähnt, ist das individuelle Muster der vier F für die verschiedenen Arten der cPTSD verantwortlich. Sie können später im Leben zu vielen anderen, mehr oder weniger dysfunktionalen Bewältigungsstrategien führen. Unabhängig von ihrem Ausmaß und ihrer Richtung haben alle Vier F eine Angst gemeinsam, die für Säugetierkinder furchtbar ist: die Angst vor dem Verlassenwerden. Wenn das passiert, setzt die Verlassenheitsdepression ein, die „schwarze Nacht der Seele“. Die ursprünglichen Abwehrmechanismen zielen also alle darauf ab, die Verlassenheitsdepression abzuwehren, und werden daher in anderen Beiträgen näher analysiert.
Verlassenheitsdepressionen können jedoch überwunden werden. Der erste Schritt besteht darin, das Problem anzuerkennen, die Gefühle zu identifizieren und herauszufinden, wie und warum sie Sie beeinflussen. Ebenso wichtig ist es, zu erfahren, wie sich das Gefühl bei Ihnen manifestiert. Der zweite Schritt besteht also darin, Ihre emotionalen und körperlichen Symptome zu kennen. Der dritte Schritt besteht darin, Hilfe zu suchen, um das toxische Selbstbild, die dysfunktionalen Reaktionen auf andere und die starren Bindungsmuster zu überwinden, die Ihnen aufgefallen sind. Und denken Sie immer daran: Eine cPTSD ist keine Form von Wahnsinn oder Behinderung, sondern eine normale Reaktion auf eine zutiefst abnorme Situation.
Quelle: Pete Walker: Complex PTSD: From Surviving to Thriving: A Guide and Map for Recovering From Childhood Trauma