Vom richtigen Essen besessen – Orthorexia nervosa
Vom richtigen Essen besessen
Orthorexia nervosa – Definition
= die zwanghafte Fixierung auf den ausschließlichen Verzehr von Nahrungsmitteln, die subjektiv als gesund eingeschätzt werden, bei gleichzeitiger Vermeidung von – in der eigenen Einschätzung - „ungesundem“ Essen.
Folgen können subjektives Leiden, Mangelernährung, Untergewicht und psychische Labilität sein.
Orthorexia nervosa ist nicht im internationalen Klassifikationssystem ICD-10 oder im Klassifikationssystem der Vereinigten Staaten DSM-5 gelistet.
Orthorexia nervosa – Krankheitsbild
Betroffene leiden unter übertriebenen Sorgen, dass Lebensmittel verunreinit sein könnten, verfolgen strikte Ernährungs- und Ernährungszubereitungsregeln und verwenden viel (gedankliche) Zeit und Krauft auf die Beschaffung der „richtigen“ Lebensmittel. Dieses Verhalten hat einen zwangsähnlichen Charakter.
Bratman ordnete die Orthorexia nervosa den vermeidend/restriktiven Essstörungen zu, und schlug 2016 folgende diagnostische Kriterien vor:
Kriterium A: | Zwanghafte Beschäftigung mit „gesunder Nahrung“, Fokussierung auf Fragen der Qualität und Zusammensetzung des Essens (zwei oder mehr der folgenden Punkte müssen erfüllt sein):
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Kriterium B: | Die zwanghafte Beschäftigung führt zu Problemen (wenigstens 1):
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Kriterium C:
| Die Störung ist nicht Symptom einer anderen Störung (Zwangsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychiatrische Erkrankung). |
Kriterium D:
| Das Verhalten wird ebenso nicht erklärt durch ein strenges Beachten von anderen Essensvorschriften (z.B. traditionelle religiöse Essensvorschriften oder ärztlich verordneter Diät). |
Durch fehlende einheitliche Diagnosekriterien für die Erkrankung gibt es keine Angaben zur ihrer Häufigkeit oder zu psychosozialen, genetischen, neurobiologischen und psychophysiologischen Grundlagen.
Orthorexia nervosa – Gesellschaft
Die Orthorexia nervosa befindet sich in enger Beziehung zu gesellschaftlichen Ernährungstrends, wie z. B. Steinzeiternährung und Veganismus, denen ihre Befürworter regelmäßig gesundheitsförderliche Wirkungen zuschreiben, während wissenschaftliche Studien zur behaupteten Gesundheitswirkung oftmals fehlen. Wie bei der Orthorexie geht es bei lautstarkem Eintreten für bestimmte Ernährungsweisen aber interessanterweise keineswegs nur um gesunde Ernährung, sondern oft auch um Selbstdarstellung und Steigerung des Selbstwerts unter Entwertung „Andersgläubiger“. Was wir wann essen, wo wir es essen, mit wem wir wo gemeinsam am Tisch sitzen, sagt mehr über uns aus als unsre Kleidung und unser Auto. „Food“ wird zum Stilmittel und Ausdruck einer Vorstellung von sich selbst.
Darüber hinaus trägt argwöhnische Kontrolle von Eltern über die Ernährung ihrer Kinder, das eifernde Wachen über „gesunde Ernährung“ und die Aufteilung der Lebensmittel, nicht nur in gesunde und ungesunde, sondern vor allem auch moralisch gute oder schlechte, zur Entwicklung einer Ernährungsstörung bei. Ein solcher Erziehungsstil mauert unnachgiebig strenge Über-Ich-Strukturen mit unverrückbaren Wertvorstellungen und Normen auf. Eine unstrittig nützliche gesunde Ernährung wird darin zum Prüfstein der Unterscheidung von Gut und Böse selbst, und die Nahrungsauswahl wird zur Ersatzreligion im Dienst der Selbstoptimierung und -überhöhung.
Orthorexia nervosa – Selbstbild
Die Störung hat damit eine auffallende Nähe zu Angsterkrankungen und Zwangsstörungen. Anorexie und Orthorexie sind ebenso verschiedene Merkmale und Verhaltensweisen gemeinsam. Betroffene zeichnen sich durch Perfektionismus aus, sind selbstkontrolliert, aber ängstlich, folgen strikten Ernährungsregeln und betrachten einen Bruch dieser Regeln als fehlende Selbstdisziplin, auf die mit noch strengeren Regeln und Bestrafung reagiert wird. (Während sich aber die Sorgen von Patienten mit Essstörungen aber vor allem auf ihr Körperbild und -gewicht beziehen, sorgen sich Orthorektiker überwiegend um ihren Gesundheitszustand.)Allen gemeinsam ist eine mächtige unbewusste Abwehr, gegen ebenso unbewusste Konflikte.
In der Entwicklung jedes Kindes treten Bedürfnisse auf, die sich vollkommen zu widersprechen scheinen: Bindung und Loslösung, Abhängigkeit und Autonomie, Sicherheit und Forscherdrang, Egoismus und Altruismus, Unterwerfung und Kontrolle, Identität und Identitätsverlust, Begehren und Verzicht usw. Konflikte, die daraus entstehen, ebenso wie ihre erfolgreiche oder erfolglose Lösung, prägen als bewusste und unbewusste Erinnerung die Persönlichkeit des Menschen und bestimmt die Entwicklung seiner psychischen Selbstrepräsentanzen (Bild von sich selbst), seiner Objektrepräsentanzen (Bild von Anderen) und seiner Beziehungsrepräsentanzen (eigene Erfahrungen in Beziehungen und von Beziehungen Anderer).
Wenn ein Kind z.B. Laufen lernt, ist es einerseits noch sehr abhängig von der Mutter und will in ihrer Nähe sein, andererseits will es seine Freiheit auskosten und sich entfernen. Daher prüft es immer wieder: „Wie reagiert meine Mama? Darf ich das? Ist sie besorgt? Hat sie Angst um mich? Findet sie es gut?“ Eine versagende, strenge oder sehr ängstliche Haltung der Bezugsperson verhindern durch verunsichernde Beziehungserfahrungen die erfolgreiche Lösung des Dilemmas zwischen Autonomie und Abhängigkeit und können sich später, im Erwachsenenalter, als zwanghaftes Absicherungsbedürfnis oder pedantische Genauigkeit als Abwehr von Chaos, Verunsicherung und Angst auswirken.
Damit eng verbunden ist die Entwicklung eines Selbstwertsystems, also eines Wissens und Gefühls von Wert und Sinn des eigenen Seins. Das Selbstwertsystem eines Menschen ist ein internes Regulationssystem, das Selbstbild, das Körperbild und das Selbstwertgefühl umfasst. Es entwickelt sich aus Beziehungserfahrungen. Das Selbstwertsystem ist durch Kränkungen, Konflikte, Enttäuschungen, aber auch durch Schicksalsschläge, Alter, Krankheit und Tod in seiner Balance bedroht. Die Sicherung des Selbstwertgefühls ist eine ständige Aufgabe. Und diese Regulierung gelingt manchmal besser und manchmal schlechter. Die Erhaltung und Wiederherstellung eines hinreichend guten Selbstwertgefühls ist eine der grundlegenden Motivationen des Menschen.
Wenn das Selbstwertsystem instabil und von ständiger Infragestellung bedroht bleibt, können Konflikte, Frustrationen, Zurückweisungen, Enttäuschungen oder auch Verluste (z.B. von Schönheit, Kompetenzen oder Anerkennung) schlecht oder gar nicht ertragen werden. Die Welt wird als versagend und feindselig erlebt. Und vor ihr müssen, sowohl die eigene Bedürftigkeit, als auch eigene Wut und Scham, verborgen werden. Wenn keine stabilen Selbstobjekte verfügbar sind, fehlt ein dauerhafte stabiles und von anderen unabhängiges Selbstwerterleben. Wer sich in seinem Selbst unbewusst ständig bedroht empfindet, wird versuchen, sich durch Kompensationsmechanismen zu stabilisieren, wie z.B. Selbstüberschätzung und Selbstidealisierung, Entwertung Anderer, durch ständiges „Im-Mittelpunkt-stehen-Müssen“, Suche nach Anerkennung, aber auch Feindseligkeit und Rückzug. Die überheblichen und eifernden Bekehrungsversuche von Anderen, die eigene Vorstellung von Gesundheit und moralischer Überlegenheit weder anzuerkennen, noch zu teilen bereit sind, gehen auf solche Versuche der Selbstwertstabilisierung zurück.
Auch strenge verinnerlichte Wertvorstellungen tragen zu dieser Einstellung bei: „Was glaube ich, dass meine Eltern von mir erwarten, wie ich sein soll oder was ich tun soll? Wie will ich selbst sein? Bin ich gut genug? Enttäusche ich meine Eltern?“ Ein Kind erwartet eine Strafe für sein Tun, im Erwachsenen entstehen stattdessen unbewusste Schuldgefühle und Angst im Zwist zwischen Ich und Über-Ich. Mit der fanatischen Auswahl der Lebensmittel soll dann Verschmutzung, Ansteckung, Gefährdung, Unordnung oder Bösartigkeit vermieden werden. Charakterzüge wie übertriebene Ordentlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Rigidität, Überkorrektheit bilden den Rahmen für diese Entwicklung. Ängste, psychosomatische Erkrankungen, Leistungsversagen, Burnout aufgrund von andauernder Selbstüberforderung, aber auch soziale Phobien und Verlassenheitsdepressionen sind mögliche Folgen.
Statt zu „munden“, in seiner ganzen Fülle bewusst geschmeckt und gekostet zu werden, wird Essen medial zur befeuerten Selbstoptimierung: wer dazugehören will, muss ein bestimmtes Schönheitsideal, einen bestimmten Körperfettanteil und ein bestimmtes Aussehen haben. Selbstbestätigung entsteht nicht mehr aus genussvoller Selbsterfahrung, sondern aus Verzicht und einem vorgestellten Triumph über vermeintliches Unterschichtverhalten wie hemmungslose Fressgier und Übergewicht.
Orthorexia nervosa – Behandlung
Da Orthorexie mit der tiefen Überzeugung verbunden ist, sich „gesund“ zu ernähren, ist das Haupthindernis einer Behandlung von vornherein die vollkommen fehlende Veränderungsbereitschaft der Betroffenen. Spätestens bei Mangelernährung und persönlichem Leid wird eine Behandlung aber notwendig. Empfehlungen für die Behandlung gibt es bei heutigem Kenntnisstand noch nicht. Für den Wunsch nach mehr Informationen bieten sich Informationsvermittlung und Ernährungsberatung an. Achtsamkeit, aktives Zuhören und die Vermittlung von Zuversicht sind wesentlich für die Vermittlung von Einsichten, die Überwindung der Zerrissenheit bezüglich des eigenen Verhaltens und den Wunsch nach Veränderung in psychotherapeutischer Arbeit. Unbewusste Konflikte, Schwarz-Weiß-Denken, katastrophisierende und andere verzerrte Gedanken und Einstellungen oder perfektionistische Leistungsansprüche können dabei Schwerpunkte sein.
Die Forschung muss zeigen, ob es sich bei Orthorexia nervosa um ein aktuelles gesellschaftliches Lebensstilphänomen handelt, oder eine eigenständige Krankheit mit bedeutendem Leid und Einschränkungen.
Uneingeschränkt darf man sicher alle Eltern einladen, ihren Kindern ein gesundes Körpergefühl zu vermitteln, statt das eigene Spiegelbild (und erst recht das ihrer Kinder) als makelbesetzt und inakzeptabel herabzusetzten. Wir leben nicht, um richtig zu essen, sondern wir essen gut, um richtig zu leben!