Scham und Schuld
Scham und Schuld sind zwei unterschiedliche Reaktionen auf Fehlverhalten oder auch in Bezug auf sich selbst. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Scham und Schuld sollen im Folgenden dargestellt werden.
Definitionen
Scham
„Scham“ bezieht sich auf das Gefühl der Verlegenheit oder Demütigung, das durch ein wahrgenommenes Versagen, eine Unzulänglichkeit oder einen Verstoß gegen soziale Normen entsteht. Es beinhaltet eine negative Bewertung des gesamten Selbst und führt zu Gefühlen der Wertlosigkeit und dem Wunsch, sich vor anderen zu verstecken oder zurückzuziehen. Scham steht oft durch das Gefühl, fehlerhaft oder defekt zu sein. Sie kann sowohl als Reaktion auf innere als auch auf äußere Auslöser erlebt werden und ist eng mit dem Selbstbewusstsein und dem Selbstbild verbunden.
Scham ist also in erster Linie eine emotionale Erfahrung einer negativen Selbstbewertung. Scham ist ein beziehungsbezogenes Gefühl, da es durch Verletzung einer Beziehung zu anderen entsteht. Sie beinhaltet oft ein auch Gefühl der Beschädigung des Selbst. Scham ist damit nicht nur eine gedankliche Bewertung, sondern auch eine gefühlsmäßige Reaktion auf zwischenmenschliche Situationen. Chronische Scham bezieht sich auf eine anhaltende Verletzlichkeit, die ständigen Selbstschutz erfordert und sich negativ auf Beziehungen auswirkt. Sie führt dann zu Selbstvorwürfen oder Abneigung und Hass, und sie beschränkt das Einfühlungsvermögen.
Toxische Scham bezieht sich auf eine lähmende und allgegenwärtige Form der Scham, die hartnäckig und tief in das Selbstbild einer Person eingewoben ist. Sie ist gekennzeichnet durch Gefühle der Wertlosigkeit, Unzulänglichkeit und Selbstabscheu. Im Gegensatz zu gesunder oder adaptiver Scham, die Menschen dazu motiviert, ihre Handlungen zu überdenken und Wiedergutmachung zu leisten, ist toxische Scham destruktiv und führt weder zu persönlichem Wachstum noch anderen positiven Veränderungen.
Toxische Scham entsteht oft durch Erfahrungen mit Beziehungs- oder Kindheitstraumata wie Missbrauch, Vernachlässigung oder Entwertung. Diese frühen Erfahrungen führen zu einem bruchstückhaften Selbstverständnis und einer verzerrten Wahrnehmung des eigenen Wertes. Sie verursachen negative Selbstüberzeugungen, Selbsthass und ein durchdringendes Gefühl einher, grundlegend fehlerhaft zu sein. Wer unter toxischer Scham leidet, sabotiert sich regelmäßig selbst, hat Schwierigkeiten, gesunde Beziehungen einzugehen, und hat ständig Angst vor Ablehnung und Beurteilung.
Toxische Scham übersteigt jedes gesunde Maß an Scham oder Schuld. Sie ist das Ergebnis kumulativer und unverarbeiteter Erfahrung von Beschämung. Die Überwindung toxischer Scham erfordert eine Therapie, die sich auf den Aufbau von Selbstmitgefühl, die Infragestellung negativer Selbstwahrnehmungen und die Erarbeitung gesünderer Muster der Selbsteinschätzung richtet.
Chronische Scham
Toxische Scham und chronische Scham sind im Wesentlichen beide auf eine Beziehungsstörung und ein tiefes Gefühl des Unwertseins zurückzuführen, aber toxische Scham ist schwerwiegender und wird oft mit frühen traumatischen Erfahrungen in Verbindung gebracht, während chronische Scham ein Muster der Beziehungsstörung und Isolation ist, das Menschen ihr ganzes Leben lang beeinträchtigt.
Toxische und chronische Scham sind in erster Linie eine Beziehungserfahrung. Sie entstehen aus zerrütteten oder toxischen Beziehungen und einem tiefen Gefühl der Unwürdigkeit, von anderen gemocht, geschätzt oder gar geliebt zu werden. Beide sind tief in das Selbstverständnis eingegraben sein und weitreichender und lähmender als gesunde oder adaptive Scham. Beide machen aus jedem Scham-Moment oder -Ereignis eine überwältigende Erfahrung von Selbstverachtung und Wertlosigkeit, die es fast unmöglich macht, bestimmte schamauslösende Situationen zu verarbeiten.
Chronische Scham ist ein Phänomen, das sich altersunabhängig entwickelt, wenn jemand regelmäßig Beziehungsabbrüche erlebt und deswegen dauerhaft Gefühle von Isolation, Verzweiflung und Unwürdigkeit erlebt.
Toxische und chronische Scham sind eng miteinander verwandt, unterscheiden sich jedoch in ihrer Art und ihren Auswirkungen auf den Einzelnen. Ein Unterschied zwischen toxischer und chronischer Scham besteht in ihren Ursachen: Kindheitstrauma bei der toxischen Scham und ein Missverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und Bindung und der Fähigkeit eines Partners, darauf einzugehen, bei der chronischen Scham.
Ein weiterer Unterschied ist, dass chronische Scham verschiedene Formen annehmen kann, die das Wohlbefinden untergraben und empathische Bezogenheit verhindern (die Gesichter der Scham). Sie kann sich als Gefühl des Unwertseins, als Erwartung des Scheiterns und als Forderung nach perfekter Leistung äußern.
Schuld
Im Gegensatz zur Scham ist Schuld in erster Linie eine gedankliche Bewertung des Verhaltens im Hinblick auf moralische Normen. Sie entsteht aus der Erkenntnis, dass man gegen eine solche Norm verstoßen und etwas Falsches getan hat. Aber natürlich bleibt die gedankliche Selbstbeurteilung nicht emotionslos. Schuldgefühle sind mit Anspannung, Reue und Bedauern verbunden, berühren aber nicht notwendigerweise den Kern einer Persönlichkeit.
Schuldgefühle oder Reue für eine bestimmte Handlung oder ein Verhalten, das als falsch oder unmoralisch angesehen wird, beinhalten ein Gefühl der persönlichen Verantwortung für Schaden oder Fehlverhalten und den Wunsch, Wiedergutmachung zu leisten oder um Vergebung zu bitten. Im Gegensatz zu Scham konzentriert sich Schuld also auf die Bewertung des eigenen Verhaltens und nicht auf das gesamte Selbst. Schuld veranlasst Menschen dazu, ihr Verhalten zu prüfen und sich mit den Folgen ihres Handelns auseinanderzusetzen.
Toxische Schuld
Toxische Schuld bezieht sich auf einen Zustand von Schuld, der unverhältnismäßig, anhaltend und schädlich für das eigene Wohlbefinden ist. Es ist immer durchsetzt mit Scham, Selbstbeschuldigung und dem Empfinden, von Natur aus schlecht oder fehlerhaft zu sein. Im Gegensatz zu gesunden Schuldgefühlen, die auf einer moralischen Bewertung der eigenen Handlungen beruhen und durch Reue aufgelöst werden können, sind toxische Schuldgefühle häufig in chronischer Scham verwurzelt. Es ist eine intensive Erfahrung, sich als schlechtes Selbst zu fühlen, auch wenn die fraglichen Handlungen oder Verhaltensweisen eine solch harte Selbstbeurteilung nicht verdienen. Bei toxischen Schuldgefühlen geht es eher um Selbstbestrafung und Selbstentwertung, als darum, Verantwortung zu übernehmen und Wiedergutmachung zu leisten. Menschen, die mit toxischen Schuldgefühlen zu kämpfen haben, können Schwierigkeiten haben, sich selbst zu vergeben, und suchen möglicherweise ständig nach einer Bestätigung ihrer eigenen Güte. Diese Art von Schuldgefühlen kann überwältigend sein und das geistige und emotionale Wohlbefinden erheblich beeinträchtigen.
Scham und Schuld: Gemeinsamkeiten
Trotz dieser Unterschiede weisen Scham und Schuld auch einige Gemeinsamkeiten auf. Beide Emotionen sind anpassungsfähig und haben eine soziale Funktion. Sie fördern prosoziales Verhalten, stärken soziale Bindungen und unterstützen persönliches Wachstum und Entwicklung. Scham und Schuld sind beides moralische Emotionen, die mit gesellschaftlichen Normen und Werten zu tun haben. Sie sind auch miteinander verbunden und können einander auslösen oder verstärken.
Sowohl Scham als auch Schuldgefühle sind negative Emotionen, die durch Fehlverhalten oder zwischenmenschlichen Schaden entstehen. Sie können gleichzeitig erlebt werden und sich in bestimmten Situationen überschneiden. Sowohl Scham als auch Schuld können mit Gefühlen der Reue und des Bedauerns verbunden sein. Sie können auch beide als Motivatoren für persönliches Wachstum und Veränderung dienen.
Scham und Schuld: Unterschiede
Der Hauptunterschied zwischen Scham und Schuld liegt in ihrer grundlegenden Natur. Scham ist in erster Linie eine emotionale Erfahrung, die eine negative Bewertung des Selbst beinhaltet, während Schuld eine kognitive Bewertung des Verhaltens ist.
Scham ist ein Beziehungsgefühl, während Schuldgefühle eher auf das Verhalten selbst gerichtet sind. Scham kann sehr schmerzhaft sein und sich auf die eigene Identität auswirken, während Schuldgefühle oft als gesünderer Zustand des Selbst angesehen werden. Scham wird mit Auflösung des Selbst und Verletzlichkeit in Bezug auf andere in Verbindung gebracht, während Schuldgefühle mit dem Erkennen und Übernehmen von Verantwortung für das eigene Handeln einhergehen. Wenn wir zu Scham neigen, neigen wir eher dazu, anderen die Schuld zu geben und betrachten sie mit Abneigung oder Hass, während wir mit Schuldgefühlen unsere Emotionen eher auf uns selbst beziehen und sie einfühlsam und konstruktiv ausdrücken.
Quellen
Ashley, Patti. 2020. Shame-Informed Therapy: Treatment Strategies to Overcome Core Shame and Reconstruct the Authentic Self. Eau Claire, Wisconsin: Pesi Publishing & Media.
DeYoung, Patricia A. 2021. Understanding and Treating Chronic Shame: Healing Right Brain Relational Trauma. New York: Routledge.
Klein, Melanie. 1984. Love, Guilt, and Reparation, and Other Works, 1921–1945. New York: The Free Press.
Lammers, Maren. 2020. Scham und Schuld – Behandlungsmodule für den Therapiealltag. Stuttgart: Klett-Cotta.
Stemper, Dirk. 2023. Toxische Schuld und Scham: das Arbeitsbuch für Selbstwertgefühl. Berlin: Psychologie Halensee.