Aus aktuellem Anlass: ein Nachtrag zur Beschämung in der Öffentlichkeit
Unlängst erreichte mich folgende Anfrage eines freien Journalisten:
„… Sehr geehrter Herr Dr. Stemper,
aktuell arbeite ich an einem Buch über die Scham und welche Rolle sie heute noch in unserer Gesellschaft spielt … Grundlage dessen ist ein großer Artikel von mir, der vergangenes Jahr … erschienen ist.
Im hinteren Teil des Buches soll es um Ansätze gehen, wie Menschen, die starke Schamerlebnisse hatten, einen Weg raus finden können aus diesem destruktiven Gefühl. Aber auch um die Frage, ob und wie man eigentlich allgemein resilienter werden kann gegenüber Beschämungen.
Hätten Sie Zeit und Interesse, sich in den kommenden Wochen mit mir über dieses Thema zu unterhalten?
Viele Grüße, …“
(Keine Sorge, die Auslassung stellen Aussagen des Anschreibens nicht durch Fragmentierung in falsches Licht, sondern verhindern lediglich die Preisgabe personenbezogener Informationen zu dem Buchvorhaben des Fragers.)
Nun fragen Sie sich vielleicht, was falsch sein soll an dieser Anfrage – aus meiner Sicht, vermutlich einiges.
Die Formen der öffentlichen Beschämung während der COVID-19-Pandemie sind aufgetreten vor dem Hintergrund einer breiten Palette von kommunikativen und sozialen Phänomenen, die durch die Medien ermöglicht wurden:
- Sprache der Angst und Kontrolle: Die Verwendung von Sprache während der Pandemie hat Angst und Unsicherheit verbreitet. Dazu dienten eine Sprache der Kontrolle und das Framing von Informationen, die bestimmte Verhaltensweisen in der Bevölkerung fördern sollten, beispielsweise durch ständige Betonung der Gefahren von COVID-19 und der Notwendigkeit strikter Maßnahmen.
- Sozialer Druck und Stigmatisierung: In den Diskursen wurde oft ein sozialer Druck aufgebaut, bestimmte Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, was zur Stigmatisierung jener führte, die diese Maßnahmen nicht unterstützten oder sich nicht daran hielten. Dazu gehörten häufig scharfe Kritik und Ausgrenzung in sozialen Medien und anderen öffentlichen Plattformen.
- Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit: Es gab zahlreiche Fälle, in denen die Meinungsfreiheit durch Zensur in sozialen Medien und anderen Kommunikationsplattformen eingeschränkt wurde. Hassreden und die Verbreitung von Falschinformationen wurden genutzt, um strenge Kontrollen zu implementieren und abweichende Meinungen zu unterdrücken. Dazu war jedes Mittel recht, einschließlich der öffentlichen Beschämung und Marginalisierung der Betroffenen.
- Politische Instrumentalisierung und Mediatisierung: Die Pandemie wurde politisch instrumentalisiert und beispiellos mediatisiert, wobei bestimmte Narrative gefördert und andere unterdrückt wurden. Die daran geknüpfte öffentliche Beschämung betraf politische Gegner und Kritiker der staatlichen Pandemiepolitik.
Alle möglichen Arten der öffentlichen Beschämung wurden durch eine Reihe von Mechanismen verstärkt, darunter die Verwendung von Sprache zur Manipulation der öffentlichen Meinung, die Etablierung eines „massiven Hintergrundkonsenses“ und die Umformung der öffentlichen Wahrnehmung durch konstante Wiederholung bestimmter Themen und Narrative.
Gewollte öffentliche Beschämung kann viele Fratzen haben, die alle auf Beschädigung des emotionalen Gleichgewichts und es Ansehens des Opfers zielen. Beleidigung, Entwertung, Bloßstellung oder Demütigung sollten Schamgefühle hervorzurufen, indem sie an jedem sensiblen Punkt eines Opfers ansetzten. Sie sind in verschiedenen sozialen Kontexten gezielt zur gesellschaftlichen Disziplinierung eingesetzt worden, beispielsweise in der Schule, Ausbildung und selbst in der Familie. Es gab insbesondere öffentliche Akte der Beschämung, die dazu dienten, das Ansehen von Personen zu beschädigen, die nicht bereit waren, ihr Expertenwissen oder ihre Selbstbestimmung preiszugeben.
Um zu verstehen, welche Folgen diese öffentliche Beschämung hinterlassen haben, lassen Sie uns spezifische Formen der öffentlichen Diskurses während der Pandemie genauer betrachten. Im Kontext der COVID-19-Pandemie sind nämlich einige spezifische Narrative aufgetreten, die durch soziale und mediale Mechanismen verstärkt wurden:
- Beschämung von Masken- und mRNA-Technologie-Skeptikern: Wer Skepsis gegen das Tragen von Masken oder gegenüber den mRNA-Produkten äußerte, wurde in sozialen Medien und in der öffentlichen Rhetorik ungehemmt als unverantwortlich oder als Gefahr für die öffentliche Gesundheit beschimpft. Diese Beschämung erfolgte durch direkte Kritik, spöttische Kommentare oder sogar durch aggressive Konfrontationen. Menschen ohne mRNA-Applikation wurde, darüber hinaus, in diskriminierender Weise der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verwehrt.
- Stigmatisierung von Infizierten: In vielen Fällen führte die Angst vor Ansteckung zu einer Stigmatisierung von Menschen, die sich mit dem Virus infiziert hatten. Betroffene wurden als fahrlässig oder als Träger von „Schuld“ an der Verbreitung des Virus markiert. Dies führte zu sozialer Isolation über die medizinisch notwendige Quarantäne hinaus.
- Beschuldigung von bestimmten Berufsgruppen oder Gemeinschaften: Bestimmte Berufsgruppen wie medizinisches Personal, das an vorderster Front gegen die Pandemie arbeitete, oder bestimmte ethnische Gruppen („Chinesen“), die fälschlicherweise mit der Verbreitung des Virus in Verbindung gebracht wurden, erlebten öffentliche Beschämung und Diskriminierung. Medizinischen und pflegenden Berufen wurde sogar die Berufsausübung untersagt.
- Kritik an Lockdown-Maßnahmen: Wer sich nicht strikt an Lockdown-Maßnahmen hielt oder an ihrer Sinnhaftigkeit Zweifel äußerte, wurde zur Zielscheibe öffentlicher Kritik oder Anprangerung, ohne Rücksicht auf negative soziale und wirtschaftliche Folgen.
Diese Formen der öffentlichen Beschämung dienten teils bewusst oder unbewusst dazu, politischen Willen durchzusetzen und individuelles Verhalten zu beeinflussen. Sie nutzten eine komplexe Interaktion von Angst und sozialer Kontrolle.
Ohne Medien hätte die veranstaltete Treibjagd auf Andersdenkende gar nicht stattfinden können. Darum müssen sich die beteiligten Medien, Journalisten und Personen der Öffentlichkeit jede Form der von ihnen verschuldeten öffentlichen Beschämung unverkürzt zurechnen lassen.
Wenn jetzt ein Journalist für einen Buchbeitrag um Auskunft bittet, wie der emotionale Scherbenhaufen bei Opfern therapeutisch aufgearbeitet und „Resilienz“ gegen Beschämung aufgebaut werden kann, ist das nur dann aufrichtig, wenn er die genannten Phänomene in seiner Aufarbeitung der Rolle der Scham in der Gesellschaft hinreichend gewürdigt hat. Andernfalls ist die Anfrage ein weiterer Versuch der Indienstnahme von Psychotherapie für die neoliberale Transformation.
Dabei sind derartige Versuche keineswegs neu. Die Medien der Konsumgesellschaft bedienen ungehemmt das Narrativ der individuellen Verantwortung für Erfolg und Lebensglück oder Misserfolg. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen werden damit aus der Wahrnehmung ausgestanzt und äußere Angst in Binnenangst verwandelt, die sich Betroffene nicht mehr ausreichend erklären können und der sie sich darum ausgeliefert fühlen. Die US-amerikanische Psychotherapie hat für die damit verursachte Flut von Depressionen und Angststörungen die „Positive Psychologie“ bereitgestellt, die Pharmaindustrie preiswerte Antidepressiva.
Die Scham spielt in Hannah Arendts Arbeit eine bemerkenswerte Rolle, insbesondere in Bezug auf Handlungen und deren Konsequenzen in der modernen Menschheit. Ihr Fokus liegt auf Gewissen und Schuld als innerem Konflikt. Sie erörtert, wie die Akzeptanz von Schuld den Einzelnen zu einer stillen Form des Handelns führt, zu persönlichem und innerem Engagement im Denken. Diese Form des Handelns steht im Gegensatz zum Lärmen des öffentlichen Diskurses und erfordert Privatheit und Introspektion, offenen Umgang mit eigener Schuld und Scham, und Selbstreflexion. Diese Art der Scham veranlasst den Einzelnen, seinen Blick auf eigenes Verhalten innerhalb des breiteren gesellschaftlichen Kontexts zu richten.
Die Medien haben ihren gesellschaftlichen Auftrag als Vierte Gewalt und jede journalistische Professionalität verraten und einer beispiellosen Vergiftung des öffentlichen Diskursraums mit allen Formen der öffentlichen Beschämung eine Bühne bereitet. Beschämt und beschimpft wurden öffentlich Wissenschaftler, Politiker und Bürger, wenn sie den obrigkeitlich verordneten Narrativen zum Pandemiegeschehen und darauf gegründetes Regierungshandeln nicht zustimmten. Die kürzlich an die Öffentlichkeit gelangten RKI-Protokolle belegen, trotz 1000 Schwärzungen, einmal mehr, wie sehr selbst Verlautbarungen der biomedizinischen Leitforschungseinrichtung der deutschen Bundesregierung (mit der zentralen Aufgabe der öffentlichen Gesundheitspflege) auf Anweisungen von Regierungsvertretern in den Dienst des gewünschten Narrativs gestellt worden sind.
In dieser Situation ist der beste Umgang mit Scham für Medienvertreter nicht die Verbreitung von Informationen über Schamresilienz und therapeutische Angebote für Opfer von öffentlichen Beschämungen. Anknüpfend an Hannah Arendt, wäre es vielmehr an der Zeit in Buch- und Medienbeiträgen aufrichtig eigenes Handeln in der öffentlichen Beschämung im gesellschaftlichen Diskurs aufzuarbeiten. Die Scham über ihr Handeln sollte Journalisten anspornen, alles für die Säuberung dieses Diskurses von persönlichen Angriffen, Beleidigungen und Entwürdigungen zu tun und gegen die propagandistische Einengung des Debattenraums zu kämpfen, die vorgeben will, was in der Öffentlichkeit sagbar sein soll und was nicht.
Die westliche Gesellschaft braucht keine Küchentischpsychologie und Tipps für die Opfer öffentlicher Beschämung, sondern eine Debattenkultur, die Beschämung und persönliche Angriffe von Meinungsgegnern von vornherein ausschließt und gleichzeitig offen genug ist für eine Meinungsvielfalt, die Beschämung Andersdenkender gar nicht erst erforderlich macht. Therapeuten machen ihre Arbeit schon, und Betroffene suchen sich Unterstützung , ohne dass Ratgeberbücher sie erst auf die Idee dazu bringen müssten.