Endlich raus aus toxischen Beziehungen – Leseprobe
Toxische Beziehungen scheinen gerade in aller Munde zu sein. Manche Menschen fühlen sich in einer toxischen Beziehung gefangen und wollen sich befreien. Dann fühlen sie sich vom anderen verletzt. Andere müssen erkennen, dass sie es sind, die Partnerin oder Partner verletzen. Sie schämen sich und möchten sich ändern, um die Beziehung zu schützen. Schließlich interessieren sich manche Menschen einfach für das Thema, aus Mitgefühl, weil sie Betroffene im Freundeskreis haben, aus Sorge, ihnen selbst könnte so etwas zustoßen, oder – machen wir uns nichts vor – aus Sensationslust, wenn Medien und soziale Plattformen Entgleisungen Prominenter beschreiben.
Dabei ist es oft schwer, Menschen zu helfen, die in eine toxische Beziehung geraten sind. Paare können sich oft nicht einigen, was eigentlich falsch läuft. Schädliche Beziehungen in der Familie, am Arbeitsplatz oder der Online-Welt sind hingegen schwer zugänglich, weil sich Betroffene erstens schämen und zweitens Schwierigkeiten haben, anzuerkennen, wenn sie selbst einen Beitrag zu der Beziehung leisten.
Oft genug bleibt, bei Uneinsichtigkeit, Widerstand eines „Täters“ oder einem unerträglichen Ausmaß an Kränkungen und Verletzungen, als einzige Möglichkeit, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, nur die Trennung der Paarbeziehung, Aufgabe der Freundschaft oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Was sind also die „toxischen Beziehungen“, die derart fatale Folgen zeitigen können? Vielfach denken wir, dass nur bestimmte Menschen in toxische Beziehungen verwickelt sind. In den Medien taucht im Zusammenhang mit toxischen Beziehungen fast immer das Bild einer Paarbeziehung mit einem narzisstischen männlichen Partner und einem weiblichen Opfer auf. Aber das stimmt so nicht. Jeder von uns kann in eine toxische Beziehung geraten, die ihm nicht guttut und die er nicht verlassen kann oder will. Allerdings sind manche Menschen tatsächlich eher gefährdet, weil sie an sich selbst zweifeln oder ihnen schon Schlimmes widerfahren ist.
In diesem Buch werden wir von toxischen Beziehungen ganz allgemein sprechen, in denen sich Menschen nicht guttun und trotzdem die Beziehung nicht beenden können oder wollen. Das kann grundsätzlich jede Art von Beziehung sein: Paarbeziehungen, Freundschaften und Familienbeziehungen oder Mobbing-Situationen am Arbeitsplatz und in der Online-Welt. In allen diesen Situationen werden Gefühle der Betroffenen verletzt, ihr Selbstwertgefühl beschädigt, und manchmal entstehen sogar körperliche Schäden. Was den Unterschied zu Beziehungsstress darstellt, also das eigentlich „Toxische“, ist die Verstrickung der Beteiligten, die den Ausstieg schwierig oder unmöglich macht – und zwar eben unabhängig von der Natur der zwischenmenschlichen Beziehung.
Früher dachte man, dass nur Frauen Opfer von toxischen Beziehungen sind, aber auch das stimmt nicht. Wenn man die allgemeine Definition der toxischen Beziehung zugrunde legt, kann jeder Mensch, unabhängig von Geschlecht oder Sexualität, in eine toxische Beziehung geraten. Da pathologische Beziehungen aber keine Diagnose darstellen, werden sie nirgends erfasst. Folglich gibt es dazu keine genauen Zahlen. Beziehungsstress ist weitverbreitet und tritt bei etwa 20 % der jungen Paarbeziehungen auf. Dabei erleben die Paare Belastungen durch ihre Beziehung unabhängig davon, ob es sich um verheiratete oder unverheiratete, heterosexuelle oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften handelte. Die Zahlen der Kriminalitätsstatistik bilden – zum Glück – nur einen kleinen Anteil ungesunder Beziehungsdynamiken ab. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit mehr als jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Beziehungspartner erlebt.[1]
In den Vereinigten Staaten[2] werden fast 20 Personen pro Minute von einem Beziehungspartner körperlich misshandelt. Im Laufe eines Jahres entspricht das mehr als 10 Millionen Frauen und Männern. An einem typischen Tag gehen darum landesweit mehr als 20.000 Anrufe bei Hotlines für häusliche Gewalt ein.
Jede vierte Frau und jeder neunte Mann erlebt schwere körperliche, sexuelle Gewalt oder Stalking in der Partnerschaft mit Folgen wie Verletzungen, Angst, posttraumatische Belastungsstörung, Inanspruchnahme von Opferhilfe, Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten usw.
Jede dritte Frau und jeder vierte Mann hat bereits irgendeine Form von körperlicher Gewalt durch einen Beziehungspartner erlebt. (Das umfasst eine Reihe von Verhaltensweisen, z. B. Schlagen, Stoßen, Schubsen und wird in manchen Fällen nicht einmal als „häusliche Gewalt“ angesehen.) Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren werden am häufigsten von einem Beziehungspartner missbraucht.
Eine von sieben Frauen und einer von fünfundzwanzig Männern wurden von einem Beziehungspartner verletzt.
Eine von zehn Frauen wurde von einem Beziehungspartner vergewaltigt. (Über männliche Opfer liegen keine Daten vor.)
Eine von vier Frauen und einer von sieben Männern wurden im Laufe ihres Lebens Opfer schwerster körperlicher Gewalt (z. B. Schlagen, Verbrennen, Erwürgen) durch einen Beziehungspartner.
Eine von sieben Frauen und einer von achtzehn Männern wurde im Laufe ihres Lebens von einem Beziehungspartner derart verfolgt, dass sie große Angst hatten oder glaubten, sie oder eine ihnen nahestehende Person könnte verletzt oder getötet werden.
Gewalt in der Partnerschaft macht 15 % aller Gewaltverbrechen aus. Bei 19 % der häuslichen Gewalt wird eine Waffe eingesetzt. Das Vorhandensein einer Waffe in einer Situation häuslicher Gewalt erhöht das Risiko eines Tötungsdelikts um 500 %.
Häusliche Gewalt steht in Zusammenhang mit einer höheren Rate an Depressionen und Selbstmorden.
Nur 34 % der Menschen, die von ihren Beziehungspartnern verletzt werden, erhalten medizinische Behandlung für ihre Verletzungen.
Häusliche Gewalt ist also grundsätzlich nicht geschlechtsbezogen, und auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen gibt es Gewalt. In vielen Fällen bleibt häusliche Gewalt unentdeckt und wird nicht gemeldet, da die Opfer aus Angst oder Scham schweigen oder sich selbst die Schuld geben. Die tatsächliche Häufigkeit von häuslicher Gewalt ist daher schwer exakt zu bestimmen und variiert je nach Land, Kultur und Gesellschaft.
Sicherlich haben die sozialen Medien einen Anteil an der wahrgenommenen Häufigkeit toxischer zwischenmenschlicher Muster, die Betroffenen eine, auf Wunsch sogar anonyme, Plattform für die Schilderung erlebten Missbrauchs bieten. Schließlich zeichnen aber auch Filme und Fernsehsendungen ein teilweise unrealistisches Bild von konfliktfreien romantischen Beziehungen, sodass jegliche Störung in der Beziehung als toxisch erlebt wird. Aber so oder so, toxische Beziehungen sind nicht in Ordnung und müssen umgestaltet oder beendet werden.
Toxische Beziehungen stellen eine enorme Belastung für unser Wohlbefinden und Ihre Gesundheit dar. Sie untergraben unsere Selbstachtung und unser Selbstwertgefühl und fangen uns in einer ständigen Spirale aus Schmerz und Verzweiflung. Trotzdem können sie schwer zu erkennen und noch schwieriger zu verlassen sein.
Dieses Buch ist aus einem Ratgeber für die Patienten in meiner Praxis entstanden und gewährt einen umfassenden Einblick in das Thema toxische Beziehungen. Es zeigt, wie man sie beenden und heilen kann. Dazu soll es Ihnen einen praktischen Leitfaden an die Hand geben.
Wir beginnen mit einer Definition von toxischen Beziehungen und zeigen auf, wie man sie erkennen kann. Wir behandeln Gaslighting und emotionale Erpressung – Formen von Manipulation, die oft in toxischen Beziehungen vorkommen. Wir beschäftigen uns außerdem mit den Auswirkungen von toxischen Beziehungen und damit, wie Menschen in solche Beziehungen geraten. Wegen der Verschiedenartigkeit toxischer Beziehungen werden wir zuerst Ursachen und Ausstiegsmöglichkeiten allgemein betrachten.
Unter den Ursachen sehen wir uns einen schwerwiegenden Sonderfall an: wenn Betroffene mit Traumaerfahrungen aus ihrer Kindheit in toxische Beziehungen geraten, was bedauerlicherweise gar nicht so selten der Fall ist.
Wir behandeln dann das Thema der Grundüberzeugungen, die unsere Gedanken und Handlungen steuern, als Ursache toxischer Beziehungen. Wir werden sehen, wie man sie erkennen und ändern kann, um gesündere Beziehungen aufzubauen.
Es folgen praktische Ratschläge. Wir untersuchen, warum es oft so schwer ist, aus toxischen Beziehungen auszubrechen, und wie man Hilfe und Unterstützung findet.
Abschließend sehen wir uns Ursachen, Warnsignale und Aktionspläne für konkrete Formen toxischer Beziehungen an. Und weil toxische Paarbeziehungen so schwerwiegende Folgen haben, werden wir sie zuerst betrachten, gefolgt von emotionaler Erpressung, Suchtproblemen, Co-Abhängigkeit, Narzissmus und Gewalt in toxischen Zusammenhängen. Da wir gesehen haben, dass der Fokus auf Paarbeziehungen in Ihrem Zusammenhang zu eng ist, werfen wir natürlich auch einen Blick auf toxische Familienbeziehungen, Freundschaften und Arbeitsplätze sowie die toxischen Interaktionen, die in den sozialen Medien entstehen können.Ich wünsche mir, dass dieses Buch für Sie von Nutzen sein wird und Ihnen dabei hilft, Ihre eigene Situation zu verstehen und zu verbessern.
[1] https //www.gewaltinfo.at/uploads/pdf/WHO_summary_ge.pdf (07.04.2023)
[2] https //ncadv.org/STATISTICS (07.04.2023)