Psychologische und soziale Wurzeln der Scham
- Psychologische und soziale Wurzeln der Scham
- Einleitung
- Ursprünge der Scham
- Neurobiologie der Scham
- Psychologische und soziale Aspekte der Scham
- Soziale Wurzeln der toxischen Scham
- Psychologische Wurzeln der Scham
- Toxische Scham
- Grundüberzeugungen und Verhaltens- und Erlebensmuster der Scham
- Auswirkungen toxischer Scham
- Psychotherapie bei toxischer Scham
- Übungen
- Schlussgedanken
Einleitung
Stellen Sie vor, jede Ihrer Handlungen und Gedanken würde von einem unsichtbaren Publikum unablässig beurteilt. Solch eine ständige Bewertung wird zu einem derart tief verwurzelten Gefühl der Beschämung führen, des es Ihr Selbst infrage stellt. Das ist toxische Scham.
Scham ist ein universelles Gefühl, das wir alle kennen. Doch wenn sie in die beschriebene zerstörerische Form umschlägt, hat sie verheerende Auswirkungen auf unser Selbstbild und unsere Beziehungen.
In diesem Beitrag tauchen wir in die Ursprünge der toxischen Scham ein und betrachten ihre psychologischen und sozialen Wurzeln. Wir werden historische Beispiele erkunden und Übungen anbieten, um persönliche Erfahrungen mit toxischer Scham zu identifizieren.
Ursprünge der Scham
Die Ursprünge der Scham sind vielschichtig und können aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Verschiedene Perspektiven bieten Einblicke in die Ursprünge der Scham aus linguistischer, religiöser, existenzieller, sozialer, evolutionärer und psychologischer Sicht. (Zur Geschichte der Scham gibt es einen eigenen Beitrag hier im WikiBlog.)
Indoeuropäische Ursprünge
Das Wort „Scham“ leitet sich vom indoeuropäischen Wort kam/kem ab, was „verstecken“ oder „verbergen“ bedeutet.
Religiöse Texte
Nicht nur die Geschichte von Adam und Eva im Paradies illustriert den Ursprung der Scham in religiösen Kontexten.
Existentielle Ursprünge
Scham wird als eine grundlegende und tief verwurzelte Emotion beschrieben, die mit der menschlichen Bedingung zusammenhängt, sich der eigenen Unbedeutsamkeit und Hilflosigkeit im riesigen Kosmos bewusst zu sein.
Genetik
Scham wird als eine genetische Veranlagung angesehen, die sozial verantwortliches Verhalten
Neurobiologie der Scham
Die Neurobiologie der Scham beschreibt die Prozesse, die im Gehirn und im Körper ablaufen, wenn Scham erlebt wird. Scham ist ein komplexes Gefühl und wird mit verschiedenen neurobiologischen Veränderungen im Körper in Verbindung gebracht.
So deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass Scham mit einem Anstieg des Cortisolspiegels einhergeht. Cortisol ist ein Stresshormon, das dazu beiträgt, den Menschen als Reaktion auf eine Bedrohung zum Handeln zu bewegen. Weiterhin wurde festgestellt, dass Scham die Aktivität anderer Botenstoffe (sog. proinflammatorischer Zytokine) im Körper erhöht, und so soziales Rückzugsverhalten fördert.
Scham scheint in der rechten Hemisphäre des Gehirns verwurzelt zu sein, die mit sozialer und emotionaler Verarbeitung in Verbindung steht. Forscher schlagen darum eine Verbindung zwischen Scham und Gefühlsregulierung vor und unterstreichen auch die Bedeutung früher Lebenserfahrungen und Bindungsbeziehungen für die Entwicklung von Scham an. Die Reaktion des Gehirns auf Scham und deren Regulierung wird von der Qualität der frühen Betreuungserfahrungen beeinflusst, insbesondere im Kontext der Eltern-Kind-Beziehung. Diese Rolle der rechten Gehirnhälfte bei der Verarbeitung von Schamerfahrungen erklärt die Bedeutung von Scham in einem Kontext von Beziehungserfahrung und Gesellschaft.
Die neurobiologischen Grundlagen von Scham unterstützen therapeutische Ansätze, die sich auf die Regulierung von Gefühlen zur Überwindung toxischer Scham konzentrieren.
Psychologische und soziale Aspekte der Scham
Scham steht in Verbindung mit der menschlichen Bedingung und der Bewertung des Selbst. Sie entsteht durch frühe Lebenserfahrungen und Störungen in Bindungen zu Bezugspersonen.
Toxische Scham wird also nicht nur durch persönliche Erfahrungen, sondern auch durch kulturelle und gesellschaftliche Normen geformt. Stereotypen, Stigmatisierung und unrealistische Erwartungen können Menschen dazu bringen, sich für Aspekte ihres Selbst zu schämen, die nicht den geltenden Standards entsprechen.
Soziale Wurzeln der toxischen Scham
Als soziales Gefühl entsteht Scham aufgrund des Bewusstseins des Einzelnen, dass er sozial bewertet wird und dabei den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen nicht entspricht. Scham ist eine verinnerlichte Reaktion auf ein externes Urteil und eine Reflexion der negativen Selbstwahrnehmung.
Scham ist dabei tief in die soziale Organisation des täglichen Verhaltens eingebettet. Sie dient der Beschränkung individuellen Verhaltens in der Gesellschaft und ruft öffentliche Reaktionen auf Handlungen hervor, die als unangemessen oder problematisch angesehen werden. Das Konzept der Scham entsteht, weil das Selbst von Natur aus sozial ist. Soziologen haben betont, dass das Selbst durch Interaktionen mit anderen geformt und gestaltet wird und eng mit gesellschaftlichen Normen, Werten und dem kulturellen Kontext verbunden ist.
Toxisch wird sie, wenn sie das Selbstwertgefühl beschädigt. Sozial gesehen wird auch toxische Scham durch kulturelle und gesellschaftliche Normen beeinflusst. Besonders Klischees, Stereotype, Stigmatisierung und unrealistische Erwartungen bringen Menschen dazu, sich für Anteile ihres Selbst zu schämen, die nicht „idealen“ Standards entsprechen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie toxische Scham kulturell verankert sein kann.
Scham und soziales Ansehen
Schon Aristoteles betrachtete Scham als eine Emotion, die eng mit sozialem Ansehen und dem Streben nach Ehre verbunden ist. Er diskutiert Scham im Kontext seines Konzepts des „Thymos“. So nennt er ein grundlegendes Verlangen nach sozialem Ansehen. Aristoteles argumentiert, dass Scham eine soziale Emotion ist, die man empfindet, wenn einem der eigene soziale Wert abgesprochen oder wenn man beleidigt wird. Sie ist verbunden mit dem Streben nach Ehre und der Vermeidung von Handlungen oder Verhaltensweisen verbunden ist, die das eigene soziale Ansehen mindern würden. Anders gesagt, ist sie eine Angst oder ein Schmerz, der entsteht, wenn durch Handlungen oder Verhaltensweisen den Leumund zu beschädigen drohen. Dann wird ein schmerzhafter Machtverlust erlebt, vor dem Blick eines realen oder vorgestellten Beobachters.
Scham spielt also eine wichtige Rolle beim Verständnis moralischer Regeln. Sie vermittelt dem Einzelnen ein Gefühl dafür, wer er ist und in welcher Beziehung er zu anderen steht. Im Gegensatz zu Schuld, die sich auf den Schaden konzentriert, der anderen zugefügt wurde, lenkt Scham die Aufmerksamkeit auf sich selbst und hilft dabei, das eigene Verhalten und die Welt, in der man lebt, zu verstehen und neu zu gestalten. Wie Schuld, hat Scham einen ethischen Inhalt, der es dem Einzelnen ermöglicht, über sein Handeln und dessen moralische Folgen nachzudenken. Scham führt zur Verinnerlichung und wird zu einem Werkzeug für persönliches Wachstum und moralische Entwicklung, die, Schritt für Schritt, aus Beschämungsanlässen zunehmend ethisches Verhalten aufbaut.
Scham und Schuld
Es überrascht daher nicht, dass Scham und Schuld in Kunst und Literatur besonders häufig vorkommen, und das meist gemeinsam. Die Forschung legt aber nahe, dass Scham und Schuld unterschiedliche Emotionen sind, auch wenn sie Gemeinsamkeiten aufweisen.
Scham zwar auf das Selbstbezogen, aber braucht den Blick anderer. Sie wird dadurch ausgelöst, dass eigene Unzulänglichkeiten oder Übertretungen anderen offenbar werden oder offenbar werden können. Sie geht oft mit einem Gefühl der Wertlosigkeit, Machtlosigkeit und dem Wunsch einher, sich zu verstecken oder zu fliehen. Scham ist eng mit der Selbsteinschätzung und der Wahrnehmung der eigenen Person als mangelhaft oder unwürdig verbunden.
Schuldgefühle hingegen wurzeln in einem Gefühl der Verantwortung für eine moralische Übertretung. Damit verbunden sind in der Regel Gefühle des Bedauerns oder der Reue und eine Konzentration auf das spezifische Verhalten oder die Handlung, die die Schuld verursacht hat. Schuldgefühle motivieren oft zu Wiedergutmachungsversuchen wie Bekenntnis, Entschuldigung oder dem Versuch, den angerichteten Schaden ungeschehen zu machen.
Obwohl sich Scham und Schuldgefühle in Bezug auf ihre Intensität und ihren Fokus unterscheiden, weisen sie auch einige gemeinsame Merkmale auf. Beide können durch bestimmte Verhaltensweisen oder Normverletzungen ausgelöst werden, und die Situationen, die sie hervorrufen, können recht ähnlich sein. Beide können durch moralisches und nicht-moralisches Versagen sowie durch Verstöße gegen soziale Konventionen ausgelöst werden.
Der Unterschied zwischen Scham und Schuld besteht also nicht in der Art der Übertretung oder den Umständen der Situation, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie Übertretung und Umstände interpretiert werden. Scham konzentriert sich auf das eigene Selbst, wobei das Verhalten als Ausdruck eines fehlerbehafteten Selbst angesehen wird, während Schuldgefühle sich auf das Fehlverhalten konzentrieren und nicht direkt das eigene Selbstkonzept betreffen.
Scham als intersubjektives Gefühl
Bei der Scham kommt es zu einer Konfrontation zwischen einem beobachtenden Objekt und der äußeren Realität oder einem (imaginären) Objekt mit der inneren Realität. Das Subjekt der Scham wird als bedrohlich und überlegen wahrgenommen wie bei Aristoteles, aber auch als existenziell notwendig für die Beziehungsentwicklung. Diese Erfahrung beginnt schon, lange vor dem ausgereiften Selbstbewusstsein, in der frühen Kindheit, wo Scham ein Bedürfnis nach Selbstveränderung anzeigt, das der angenommenen Absicht einer Bezugsperson entsprechen will.
In Sartres existenziell-ontologischer Sichtweise ist Scham daher grundlegend mit dem Blick und dem Urteil anderer verbunden. Sartre sagt: „Ich schäme mich vor den anderen“, und betont damit die Bedeutung der Wahrnehmung des anderen für das Schamgefühl. Diese Sichtweise unterstreicht die Rolle der Scham, wenn man sich selbst als ein unterlegenes und abhängiges Objekt für andere erkennt.
Ebenso wird die Scham durch das subjektive Erleben der eigenen Person in Bezug auf die Normen und Erwartungen der Gesellschaft beeinflusst. Scham fungiert als Medium der sozialen Kontrolle, das Normen aufrechterhält und soziale Ungleichheit verfestigt. Die Erfahrung von Scham beinhaltet, dass man sich die Urteile anderer vorstellt und sich den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen anpasst. Scham ist also von Natur aus intersubjektiv, da man sich selbst mit den Augen der anderen wahrnimmt und das Gewicht ihrer Verurteilung spürt.
Psychologische Wurzeln der Scham
Scham wird zu den selbstbezogenen Emotionen gezählt, zu denen auch Schuld, Verlegenheit und Stolz gehören. Sie ist mit der Selbstbeurteilung verbunden und führt zu einem Gefühl der Demütigung oder des Kummers.
Psychodynamische Theorien gehen davon aus, dass Scham durch Konflikte zwischen dem Ich, dem Ich-Ideal und dem Über-Ich entsteht. Auch frühe Lebenserfahrungen und Störungen der Bindungen zu Bezugspersonen tragen darum zu Schamgefühlen bei.
Scham und Perfektionismus
Perfektionisten neigen zu Schamgefühlen – hauptsächlich aufgrund ihres Alles-oder-Nichts-Denkens und ihrer Tendenz, Misserfolge zu verallgemeinern. Dabei nehmen Perfektionisten eine ganze Kette von Gleichsetzungen vor:
- Sie sind überzeugt, dass Leistungen, die nicht perfekt sind, als Versagen angesehen werden müssen.
- Sie interpretieren ihre Fehler und Misserfolge als Spiegel ihres Selbst und das nur durch Perfektion Wert haben kann.
- Umgekehrt betrachten sie jedes nicht perfekte Ergebnis als Beweis eigener Wertlosigkeit.
Beschäftigung mit den (vermuteten oder geäußerten) Maßstäben und Bewertungen anderer Menschen, steht in besonderem Zusammenhang mit der Anfälligkeit für Schamerfahrungen. Perfektionisten erleben sich Beschämung durch die mutmaßliche Bewertung ihrer Person durch andere, und sie können sich darum insgesamt als Versager fühlen. Wegen dieser Tendenz von Perfektionisten, ihren Selbstwert auf externe Bewertungen zu stützen, und aus Angst, nicht perfekt zu sein, entsteht ein ständiges Bedürfnis, unmöglich hohe Standards zu erfüllen.
Interessanterweise im Gegensatz dazu erleben Perfektionisten Schuldgefühle für bestimmte Verhaltensweisen oftmals weniger ausgeprägt, da sie sich mehr auf ihr Ansehen und ihre eigene Bewertung konzentrieren als auf die Auswirkungen auf andere.
Toxische Scham
Toxische Scham entsteht im Kindesalter aus einem Missverhältnis zwischen dem Grundbedürfnis nach Bindung und dem Unvermögen von Betreuungspersonen, darauf angemessen einzugehen. Alle Kinder lernen, beginnend nach der Geburt, sich Hinweisen anzupassen, um Verbundenheit herzustellen und aufrechtzuerhalten, wobei sie ihre eigenen Bedürfnisse teils durchsetzen oder unterdrücken müssen und aus ihrem Selbst- und Beziehungserleben ein Selbstgefühl entwickeln, das auch auf den Reaktionen anderer beruht.
Abhängigkeit von externer Bestätigung und das Bedürfnis, perfekt zu sein, um sich wertvoll zu fühlen, tragen besonders zu toxischer Scham beitragen. Wenn ein Kind ständiger Kritik, Vernachlässigung oder Missbrauch ausgesetzt ist, kann es gar nicht anders, als eine tief verwurzelte Überzeugung zu entwickeln, dass etwas Grundlegendes mit ihm nicht stimmt. Diese Überzeugung ist das Wesen toxischer Scham.
Scham ist in der familiären Erziehung durch verschiedene Faktoren und Dynamiken verwurzelt.. Hier sind einige wichtige Punkte
Erziehungsstil der Eltern
Es ist widerlegt, dass nur eine strenge oder beschämende Erziehung die einzige Ursache für Scham ist. Viele Menschen, die unter chronischer Scham leiden, können keine Hinweise auf eine solche Erziehung in ihrer Kindheit finden. Stattdessen waren ihre Eltern zu ängstlich oder aus anderen Gründen unfähig, ein haltgebendes und unterstützendes Umfeld für ihre Kinder zu schaffen.
Emotionale Vernachlässigung und Einmischung
Es bleibt aber dabei, dass in Familien mit toxischer Scham oft Schuldzuweisungen, Misstrauen, emotionale Vernachlässigung oder verbale Übergriffe die Norm sind. Die Familienmitglieder leben in Silos der emotionalen Isolation und haben dabei Geheimnisse voreinander. Scham wird zu einem einsamen Geheimnis, mit dem auf unterschiedliche Weise umgegangen wird. Diese Kultur der Geheimhaltung und der emotionalen Dysregulation hält die Scham innerhalb der Familie aufrecht.
Bindungsstörung
Scham wird als Beziehungstrauma beschrieben, insbesondere im Zusammenhang mit einer gestörten emotionalen Beziehung zu wichtigen Bezugspersonen. Sie sorgt für die Entwicklung eines brüchigen, widersprüchlichen Selbstbildes, besonders durch das Fehlen einer abgestimmten Reaktionsfähigkeit oder effektiven Regulierung von Beziehungen und Gefühlen innerhalb der Familie. So verwurzelt sich Scham tief in der Beziehungsgeschichte des Einzelnen.
Mangelndes Einfühlungsvermögen
Fehlen von Verständnis und Beziehungen innerhalb einer Familie, fühlen sich Kinder von ihren Eltern oder Geschwistern nicht gesehen und verstanden. Dieses Fehlen einer abgestimmten Ansprechbarkeit und emotionalen Verbindung trägt zur Entwicklung und Aufrechterhaltung von toxischer Scham bei.
Dynamiken wie emotionale Vernachlässigung oder Übergriffigkeit, fehlende emotionale Bindung und die Weitergabe von Scham über Generationen hinweg prägen das Selbstverständnis des Einzelnen, sein Selbstwertgefühl und seine Verwundbarkeit durch Beschämung.
Vererbte Scham
Erwachsene können auch ihr eigenes verwundetes inneres Kind auf Kinder projizieren, mit verächtlichen Aussagen über deren Körper, Geist oder Fähigkeiten. Diese Wertaussagen zersetzen das zerbrechliche Selbstwertgefühl des Kindes und führen zu einem geringen Selbstwertgefühl in der Pubertät und darüber hinaus. Diese von Erwachsenen „ererbte Scham“ wird von Kindern verinnerlicht und schafft eine erhebliche Kluft zwischen der Selbstwahrnehmungen des Einzelnen und der beobachtbaren Realität.
Grundüberzeugungen und Verhaltens- und Erlebensmuster der Scham
Niederschläge früher Beziehung und Erfahrungen werden als „Arbeitsmodelle“ und Grundüberzeugungen verinnerlicht. Ihnen entsprechend Verbindungen von Neuronen im Gehirn, die so stabil sind, dass sie von Triggern automatisch aktiviert werden. Schädliche Grundüberzeugungen entstehen als Folge von nicht angemessen befriedigten Grundbedürfnissen:
Sichere Bindung zu anderen Menschen,
Autonomie, Kompetenz und Identität,
realistische Grenzen und Selbstkontrolle,
Freiheit und Ausdruck von berechtigten Bedürfnissen und Emotionen sowie
Spontaneität und Spiel.
Dazu treten verinnerlichte Bewertungen und Muster von Bewältigungsverhalten. Letztere stellen Reaktion auf die ursprünglichen Arbeitsmodelle dar, die die Aktivierung schmerzhafter Überzeugungen möglichst verhindern sollen.
Grundüberzeugungen sind stabil und bleiben oft unbewusst und auf jeden Fall im Hintergrund. Erst aus aktuell aktivierten Erlebenszuständen und dem damit zusammenhängenden Verhalten entstehen wahrnehmbare Muster. Diese Aktivierungsmuster können situationsbezogen rasch wechseln. Sie sind also keine „Unter-Persönlichkeiten“, sondern Ausdruck aktivierter Grundüberzeugungen. Sie sind aber direkt beobachtbar und deswegen für Betroffene und andere leichter zugänglich. (Grundüberzeugungen können selbst nur mittelbar aus der Biografie erschlossen werden.) Es gibt verschiedene solcher Muster. Auch Elternbilder können so verinnerlicht werden, etwa als strafende oder fordernde Eltern. Bewältigungsmuster sind: Unterordnung, Gefühlsvermeidung durch Abstand, Überkompensation, Wichtigtuerei, Pöbelei, Tricksen, oder zwanghaftes Kontrollbedürfnis. Natürlich gibt es auch gesunde Aktivierungsmuster.
Mehrere dieser Muster sind besonders mit Scham verbunden:
Misstrauen
Dieses Muster ist durch Gefühle von Scham und Misstrauen gegenüber anderen gekennzeichnet. Menschen, die dieses Muster aktiveren, schämen sich und haben sogar das Gefühl, Liebe und Unterstützung nicht zu verdienen. Der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen wird dadurch erschwert.
Wut
Dieses Muster beinhaltet intensive Gefühle von Wut und Aggression gegenüber sich selbst und anderen. Scham wegen des Gefühls, fehlerhaft oder unzureichend zu sein, befeuert diese Wut.
Impulsivität
Dieses Muster führt zu Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle und Selbstregulierung. Scham kann dann durch impulsive und unangemessene oder schädliche Verhaltensweisen entstehen.
Verzweiflung
Dieser Muster ist durch Gefühle von Traurigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung gekennzeichnet. Dann entsteht Scham, weil man das Gefühl hat, Glücks und Erfüllung nicht zu verdienen und aus Selbstbeschuldigungen.
Scham ist also eingebettet in bindungsbezogene Grundüberzeugungen und Mustern der psychologischen Erfahrung.
Auswirkungen toxischer Scham
Scham wird von Gefühlen der Verletzlichkeit, Minderwertigkeit und der Sorge um die Meinung anderer begleitet. Die Furcht vor Verurteilung und Zurückweisung aktiviert diese schädlichen Bewältigungsmuster, mit der Folge der Vermeidung, Aggression oder Selbstabwertung zum Schutz des Selbstwertgefühls zur Vermeidung weiterer Beschämung. Die Psychologie kennt daher zahlreiche Auswirkungen toxischer Scham.
Körperscham
Gefühle wie Scham, Traurigkeit und Angst können nur durch Selbst- und Körperwahrnehmung erlebt werden.
Essstörungen
Bulimia nervosa ist mit Depressionen und Scham verbunden und hängt mit der Selbstwahrnehmung und dem Körperbild zusammen. Menschen mit Anorexie und Bulimia nervosa weisen in Untersuchungen höhere Werte für globale Scham auf als Betroffene von Angststörungen und Depressionen.
Sozialphobien
Scham wurde als emotionales Schlüsselsymptom bei sozialen Phobien identifiziert. Menschen mit sozialer Phobie meiden Zusammenkünfte, aus Angst vor Ablehnung, weil sie sich nicht zutrauen, Erwartungen anderer zu genügen. Sie schämen sich, weil sie fürchten, dass ihnen ihre Nervosität oder Angst angesehen werden könnte. Scham verstärkt also ihre Angst noch weiter.
Selbstentwertung
Toxische Scham führt insgesamt zu einer negativen Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung, bei der die Betroffenen ihre Scham verinnerlichen und glauben, dass sie grundsätzlich fehlerhaft oder wertlos sind. Das beschädigt ihr Selbstwertgefühl und ihr allgemeines Wohlbefinden.
Vermeidung
Vermeidungsverhalten dient dann dazu, dem mit der toxischen Scham verbundenen Unbehagen und seelischen Schmerz zu entgehen. Besonders soziale Interaktionen werden vermieden werden, und damit die Möglichkeiten für Beziehungen und Wachstum eingeschränkt. Toxische Scham wirkt sich darum in verschiedener Hinsicht nachteilig auf Beziehungen aus.
Beziehungsstörung
Die Angst vor Scham kann dazu führen, dass persönliche Informationen verheimlicht werden. Das behindert den Aufbau offener und vertrauensvoller Beziehungen. Scham kann so zu Gefühlen der Unverbundenheit führen. Für andere wirken die Betroffenen ebenso unerreichbar wie die anderen für die Betroffenen.
Anschuldigungen
Scham kann sich, wie oben beschrieben, auch in nach außen gerichteter Wut und Schuldzuweisungen äußern. Diese Betroffenen richten ihre Wut als Abwehrmechanismus gegen andere richten, um ihr Selbstwertgefühl zu schützen und von ihrer eigenen Scham abzulenken.
Falscher Stolz
Scham hält Menschen oft davon ab, Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie Angst vor Zurückweisung oder Peinlichkeit haben. Dies kann sogar zu verspäteter medizinischer Behandlung mit potenziell negativen gesundheitlichen Folgen.
Psychotherapie bei toxischer Scham
Die Psychotherapie geht toxische Scham auf verschiedene Weise an. Hier einige Beispiele:
Schädliche Momente
Ein Ansatz besteht darin, „schädliche Momente“ im Alltag zu erkennen und zu bearbeiten. Diese Momente beziehen sich auf Zeiten, in denen Betroffene allein sind und immer wieder negative Scham- und Schuldgefühle, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit erleben. In solchen Momenten ist es wichtig, einen angemessenen Umgang mit diesen starken Emotionen zu erwerben und selbstverletzendes Verhalten oder gar Selbstmordideen zu überwinden.
Vorstellungsübungen
Imaginationstechniken dienen dazu, schmerzhafte oder traumatische Szenen aus der Vergangenheit zu bearbeiten. Dabei werden diese Szenen neu geschrieben, um die Heilung der zugrunde liegenden Grundüberzeugung zu fördern. Zu lernen, wie diese Themen aus der Vergangenheit in seinem gegenwärtigen Leben zum Tragen kommen, macht die Veränderung der Grundüberzeugungen möglich.
Nachbeelterung
Betroffene brauchen Unterstützung, um Schmerz aufgrund von Verletzungen und Einsamkeit ertragen zu lernen, ohne auf selbstberuhigende oder zwanghafte Verhaltensweisen zurückzugreifen. Psychotherapie arbeitet daran, Erlebensmuster des „verletzten Kindes“ zu heilen. Dazu dient das „Reparenting“. Der Begriff klingt seltsam. Aber in der Therapie besteht tatsächlich in bestimmtem Umfang die Möglichkeit, die emotionalen Grundbedürfnisse nachträglich zu erfüllen und so Traumata allmählich erfolgreich hinter sich zu lassen.
Übungen
Wenn Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit toxischer Scham erkunden möchten, können folgende Übungen hilfreich sein:
Kindheitserinnerungen
Denken Sie an Ihre Kindheit zurück. Gab es Momente, in denen Sie sich tief beschämt fühlten? Wie haben diese Erfahrungen Ihre Selbstwahrnehmung geprägt?
Journaling
Beginnen Sie, ein Tagebuch über Momente zu führen, in denen Sie sich schämen. Notieren Sie, was vorgefallen ist und wie Sie sich dabei gefühlt haben. Suchen Sie nach Mustern.
Inneren Monolog beobachten
Achten Sie auf Ihren inneren Monolog und Selbstgespräche. Sind sie von Selbstkritik und Scham geprägt? Wie könnten Sie sie mit mehr Selbstmitgefühl umgestalten?
Schlussgedanken
Scham ist sowohl individuell als auch kulturell bedingt. Sie ist weit mehr als nur ein persönliches Gefühl. Sie ist auch ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir leben.
Wenn es um die Überwindung toxischer Schamgefühle geht, hilft das Verständnis ihrer historischen, psychologischen und sozialen Wurzeln, auf dem Weg hin zu mehr Selbstakzeptanz und Mitgefühl. Sie dienen als Ausgangspunkt für ein tieferes Verständnis und eine bewusstere Auseinandersetzung mit diesem komplexen Gefühl.“
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